Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922–1941

Quellen-Datenbank

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Dokument Nr. 38

4. Die große Hungersnot 1932/33

Segreteria di Stato, Sezione per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico (S.RR.SS.),
Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari (AA.EE.SS.),
Pro Russia (1932-1935),
Pos. Scat. 11,
Fasc. 74,
Fol. 27 r-28 rv

Datum: 15. März 1933
Verfasser: Heinrich Wienken
Empfänger: Michel d’Herbigny
Inhalt: Der Direktor des Deutschen Caritasverbandes Heinrich Wienken, Berlin, bittet den Präsidenten der Päpstlichen Kommission für Russland, Michel d’Herbigny, 1933 um Mittel, für eine deutsche Getreidelieferung an die hungernden Katholiken in Sowjetrussland. Die mennonitische wie die protestantische Gemeinschaft hätten ihrerseits bereits größere Teilzahlungen zugesagt.

Deutscher Caritasverband
Hauptvertretung
Päpstliches Hilfswerk für die Russen in Deutschland
 
Berlin, den 15. März 1933
 
Seiner Exzellenz
dem Hochwürdigsten Herrn Michael d’Herbigny
Bischof von Ilion, Präsident der Päpstlichen Kommission für Russland
R o m  - Vatikan
 
E w .   E x z e l l e n z
 
ist bekannt, dass schon seit dem Herbst vorigen Jahres in Russland eine schreckliche Hungersnot wütet. Besonders haben unter dieser Not, wie uns zuverlässig mitgeteilt wird, auch die Katholiken in Süd-Russland und im Wolga-Gebiet zu leiden. Die Zahl der Katholiken, soweit sie deutschstämmig sind, wird von amtlicher Seite auf etwa 150 000 geschätzt.
In den letzten Wochen hat nun die Hungersnot sich so gesteigert, dass schon ein Massensterben beginnt schlimmer wie in den Hungersjahren 1921/22. Tagtäglich treffen in Deutschland hunderte von Bittbriefen ein mit geradezu erschütternden Berichten über das dort herrschende Hungerelend. Es sind letzte Hilferufe in höchster Not.
Wie ich Ew. Exzellenz mit Schreiben vom 14. Dezember 1932 berichtete, ist bereits im Dezember 1932 in Deutschland eine Hilfsaktion zu Gunsten der Hungernden in Russland in die Wege geleitet worden. Neben der mennonitischen und protestantischen Religionsgemeinschaft hat auch der Deutsche Caritasverband seitdem durch Vermittlung der „Gesellschaft für Paketversand nach U.d.S.S.R.“ (Berlin, Wittenbergplatz 1) eine grosse Anzahl von Liebesgaben an die notleidenden Katholiken in Russland geschickt. Es zeigt sich aber, dass diese Hilfe nicht ausreichend ist, um die bestehende Not auch nur einigermaßen zu lindern. Soll das Massensterben verhindert werden und die Bevölkerung bis zur nächsten Ernte durchhalten können, so muss in wirksamer Weise geholfen werden.
In dieser Erkenntnis hat nun das Auswärtige Amt des Deutschen Reiches vor einigen Tagen den Vertretern der Evangelischen, Mennonitischen und Katholischen Kirche vertraulich folgenden Plan unterbreitet:
Das Deutsche Reich hat auf Grund von Handelsverträgen mit Russland auch in diesem Jahre wieder von Russland eine größere Menge von Getreide übernehmen müssen. Dieses Getreide ist nun nicht nach Deutschland überführt worden, sondern lagert noch in Russland. Deutschland hat auch zur Zeit keine Verwendung für dieses Getreide. Es besteht nun die Möglichkeit, dass vielleicht dieses Getreide – etwa 25 000 to – für die hungernde deutschstämmige Bevölkerung zur Verfügung gestellt wird. Schätzungsweise könnte bei der Verteilung auf den Kopf der Hilfsbedürftigen 1 Zentner Getreide entfallen. Eine ordnungsgemässe Verteilung und eine Garantie dafür, dass die Notleidenden tatsächlich in den Besitz Getreides kommen, ist gewährleistet. Die Deutsche Regierung hat diesbezüglich Pläne ausgearbeitet und wird die dazu notwendigen Verhandlungen mit den russischen Behörden, wie so oft, mit Erfolg führen können.
Es handelt sich nun darum, dass die Finanzierung dieses Hilfswerkes durchgeführt wird. Mit Rücksicht auf die gegenwärtige politische Lage in Deutschland und angesichts der grossen Not im eigenen Lande – um drohenden Hungerrevolten vorzubeugen, hat die Deutsche Regierung in letzter Zeit grosse Mengen Brotgetreide, Butter und Käse für die hungernde Bevölkerung innerhalb des Deutschen Reiches verteilen müssen – kann die Deutsche Regierung die Kosten für diese in Vorschlag gebrachte Hilfsaktion allein nicht übernehmen. Die vorgenannte Getreidemenge von 25 000 to. repräsentiert schätzungsweise einen Wert von 1,5 Millionen Mark. Es wird in Aussicht gestellt, dass die Deutsche Regierung einen Betrag von 500 000 Mark zur Verfügung stellt, die Summe von 1 Million Mark müsste anderweitig aufgebracht werden. Davon hat nun die protestantische Religionsgemeinschaft bereits einen Betrag von 400 000.- Mark zugesichert. Dieselbe Summe wird auch von der mennonitischen Religionsgemeinschaft garantiert. Es wird nun gebeten, dass die fehlende Summe von 200 000.- Mark seitens der Katholischen Kirche beschafft wird. Die Zahlung braucht nicht sofort zu erfolgen, sondern erst nach 5 Jahren. Es kommt der Deutschen Regierung vor allem darauf an, dass eine zuverlässige katholische Einrichtung sich verpflichtet, auf Treu und Glauben diese Summe bis zum Jahre 1938 zu bezahlen.
Da wir nun hier in Deutschland im Augenblick, infolge der unsicheren wirtschaftlichen Verhältnisse, keine Möglichkeit sehen, die Zahlung zu garantieren und auch von den amerikanischen Katholiken eine Hilfe nicht erwartet werden kann, gestatte ich mir die ergebene Anfrage, ob Ew. Exzellenz eine Zusicherung geben können, dass von Rom aus bei der Aufbringung dieser Summe geholfen wird. Ich wage es nicht, die günstige Gelegenheit, durch dieses Hilfswerk etwa 150 000 Katholiken vor dem Hungertode zu bewahren, unbenutzt vorübergehen zu lassen, ohne auch die letzte Möglichkeit, die Summe von 200 000.- M. zu beschaffen, ausgeschöpft zu haben.
Ich bin mir bewusst, dass gegen diese Hilfsaktion und die Art und Weise der Durchführung mancherlei Bedenken und Einwendungen erhoben werden können, aber bei einer sachlichen Abwägung der Gründe für und wider dürfte doch die Tatsache, dass auf diesem Wege vielleicht hunderttausend Glaubensgenossen, die schon seit Jahren unsäglich viel gelitten haben, das Leben gerettet wird, alle Bedenken in den Hintergrund treten lassen.
Ich darf noch bemerken, dass der Präsident des „Päpstlichen Hilfswerks für die Russen in Deutschland“, S. Exzellenz Bischof Dr. Schreiber, meine Ansicht, dass alles versucht werden sollte, den hungernden Glaubensgenossen in Russland auf dem vorbezeichneten Wege Hilfe zu bringen, voll und ganz teilt und dass ich gestern dieserhalb auch mit Sr. Exzellenz, dem H. H. Nuntius Msgr. Orsenigo, verhandelt habe. S. Exzellenz, der Hochwürdigste Herr Nuntius ist unterrichtet, dass ich dieses Schreiben an Ew. Exzellenz richte.
Indem ich nun nochmals vorstehende Angelegenheit dem Wohlwollen  E w .   E x z e l l e n z  empfehle und wegen der Dringlichkeit der Sache die gehorsame Bitte um baldige Rückäusserung ausspreche, verbleibe
 
in ehrfurchtsvoller Ergebenheit
Ew. Exzellenz
gehorsamster
 
gez. Heinrich Wienken
Direktor.

Empfohlene Zitierweise:
Dokument Nr. 38, in: Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922-1941. Quellen-Datenbank. Hrsg. von Katrin Boeckh und Emília Hrabovec. URL: http://www.konnetz.ios-regensburg.de/dokumenteview.php?ID=38, abgerufen am: 21.11.2024.
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