Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922–1941

Quellen-Datenbank

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Dokument Nr. 43

4. Die große Hungersnot 1932/33

Segreteria di Stato, Sezione per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico (S.RR.SS.),
Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari (AA.EE.SS.),
Pro Russia (1932-1935),
Pos. Scat. 11,
Fasc. 75,
Fol. 79r-81r

Datum: 5. September 1933
Verfasser: Heinrich Wienken
Empfänger: Orsenigo, Nuntius in Berlin
Inhalt: Der Direktor des Deutschen Caritasverbandes in Berlin, Heinrich Wienken, berichtet dem Apostolischen Nuntius in Berlin, Orsenigo, über die Hilfsaktion für die Hungerleidenden in Sowjetrussland.

Deutscher Caritasverband
Berlin, den 5. September 1933.
 
Sr. Exzellenz
dem Hochwürdigsten Herrn Apostolischen Nuntius Orsenigo
 
 
Ew. Exzellenz!
gestatte ich mir unter Bezugnahme auf die gestrige mündliche Besprechung über die „ H i l f s a k t i o n   z u g u n s t e n   d e r   H u n g e r n d e n   i n   R u s s l a n d “ nachstehende Ausführungen zu machen:
Die Vermittlung der Liebesgaben aus Deutschland an die Hungernden in Russland erfolgt in der Hauptsache durch die Gesellschaft für Paketversand nach U.d.S.S.R. Fast & Co., Berlin W. 62, Wittenbergplatz 1, und zwar auf dem Torgsin-Wege. Es werden Pakete und auch Geld geschickt. In den meisten Fällen wird in den Bittbriefen die aus Russland kommen, angegeben, ob die Uebersendung von Paketen oder Geld gewünscht wird. In der letzten Zeit wird sehr oft der Wunsch geäussert, dass Geld übersandt werden möchte. Diese Wünsche werden selbstverständlich berücksichtigt.
Die Besatzung der Gesellschaft für Paketversand für Liebesgabensendungen nach Russland hat den Vorzug, dass von ihr eine Garantie für die tatsächliche Aushändigung der Liebesgaben an die jeweiligen Empfänger in Russland geleistet wird. Bleibt die Bestätigung des Empfängers aus, so wird der Wert der Sendung erstattet.
Die Betreuung der notleidenden deutschstämmigen Katholiken in Russland liegt ausschliesslich in den Händen des Deutschen Caritasverbandes, Berlin. Gehen Bittgesuche von Katholiken bei der evangelischen oder mennonitischen Hilfsstelle oder auch bei der Zentralgeschäftsstelle „Brüder in Not“ ein, so werden diese Gesuche an den Caritasverband abgegeben, umgekehrt leitet der Caritasverband bei ihm eingehende Bittgesuche von Protestanten und Mennoniten an die entsprechenden anderen Hilfsstellen weiter.
Die Unterstützungsmittel, die auf das Conto des Deutschen Caritasverbandes eingezahlt werden, werden ausschliesslich für die notleidenden Katholiken verwendet. Von den Mitteln, die auf das Conto der Reichssammlung „Brüder in Not“ eingezahlt werden, erhält der Caritasverband zur ausschliesslichen Hilfe für die notleidenden Katholiken 20 %.
Bei der Geschäftsstelle „Brüder in Not“ wurde in den letzten zwei Monaten ein Betrag von 680.000.- M. eingezahlt. Auf dem Conto des Deutschen Caritasverbandes gingen ca. 9000.- M. ein.
Eine evtl. Spende aus Rom, die auf das Conto des Deutschen Caritasverbandes eingezahlt wird, würde demnach ausschliesslich den notleidenden Katholiken in Russland, und zwar je nach Bestimmung Priestern oder Laien, zugewendet werden können.
In einzelnen besonders dringenden Fällen hat der Caritasverband auch notleidenden Katholiken nichtdeutscher Nationalität in Russland, die Bittgesuche geschickt hatten: Polen, Ruthenen usw. Liebesgaben zugewandt. Es ist uns in Berlin nicht bekannt, ob in anderen Ländern für diese notleidenden Katholiken zuständige Hilfskomitees, denen die Bittgesuche zur Erledigung übersandt werden können, bestehen. Es wäre sehr erwünscht, aus Rom eine Aeusserung darüber zu erhalten, ob diese Praxis Zustimmung findet.
Bezüglich der von Wien aus eingeleiteten Aktion (Cardinal-Erzbischof Innitzer und Dr. Ammende) ist zu bemerken, dass nach den Erklärungen des Herrn Dr. Ammende am 1. August in Berlin nicht beabsichtigt ist, in Wien eine besondere Sammel- oder Hilfsstelle zugunsten der Hungernden in Russland einzurichten. In Oesterreich hat nach seiner Meinung in Anbetracht der dort herrschenden schlechten Wirtschaftsverhältnisse eine Sammlung überhaupt keine Aussicht auf Erfolg. Die zentrale Sammel- und Hilfsstelle soll vorläufig in Berlin bleiben. Sollte freilich das geplante  W e l t h i l f s w e r k  zustande kommen, so müssten über dessen Organisierung besondere Abmachungen getroffen werden.
Die russische Hilfsaktion, soweit sie sich auf Katholiken erstreckt, kann auch in Zukunft in derselben Weise wie bisher vom Deutschen Caritasverband in Berlin weiter durchgeführt werden, auch selbst für den Fall, dass sie, wie zu erwarten steht, in nächster Zeit einen grossen Umfang annehmen wird.
Der Caritasverband beabsichtigt, in Berlin eine Zentralkartothek sämtlicher notleidenden deutschen katholischen Familien in Russland einschliesslich der Priester, einzurichten. Die Mennoniten haben es schon erreicht, dass ihnen sämtliches Adressenmaterial der notleidenden Mennoniten in Russland auch von den Hilfsstellen in anderen Ländern: Holland, Schweiz, Nordamerika usw. in Berlin zur Verfügung gestellt wird. Dasselbe trifft bei den Protestanten zu. Der Deutsche Caritasverband erhielt bisher erst von wenigen russischen Hilfsstellen für die notleidenden Katholiken in Russland: Holland, Schweiz, Tschechoslowakei Adressenmaterial. Von anderen Ländern ist es uns zugesagt worden.
Die Kartothek des Caritasverbandes zählt bisher 750 notleidende katholische Familien. Weiterhin enthält sie die Namen sämtlicher katholischen deutschen Geistlichen. Alle diese Familien und ebenso die Priester werden in gewissen Abständen mit Liebesgaben versorgt. Im Augenblick haben wir jedoch den Versand von Liebesgaben nach Russland etwas eingeschränkt, weil dort zurzeit infolge der eingebrachten guten Ernte wenigstens in vielen Gegenden die Not nicht so drückend ist.
 
Durch die zentrale Zusammenfassung der gesamten Hilfsaktion für die Katholiken wird es möglich sein, dass Missbräuche, wie sie gelegentlich schon vorgekommen sind, insofern einzelnen Notleidenden in Russland, die sich an verschiedene Hilfsstellen wandten, Liebesgaben im Ueberfluss zugeleitet wurden, während andere leer ausgingen, in Zukunft vermieden werden können.
 
Indem ich hoffe, Ew. Exzellenz mit vorstehenden Ausführungen gedient zu haben, verbleibe ich
in ehrfurchtsvoller Ergebenheit!
 
gez. Heinrich Wienken
Direktor

Empfohlene Zitierweise:
Dokument Nr. 43, in: Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922-1941. Quellen-Datenbank. Hrsg. von Katrin Boeckh und Emília Hrabovec. URL: http://www.konnetz.ios-regensburg.de/dokumenteview.php?ID=43, abgerufen am: 15.11.2024.
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