Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922–1941

Quellen-Datenbank

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Dokument Nr. 60

5. Hilfsdiplomatie, Kommunikationswege und Vermittler

Erzbischöfliches Archiv München (EAM),
Bestand: NL Faulhaber,
Signatur: 9780

Datum: 15. Januar 1935 (mit Bezug auf Schreiben vom 4. Februar 1935, 5. Februar 1935 und 21. Mai 1935 )
Verfasser: Roth, Deutsches Konsulat, Odessa
Empfänger: Deutsche Botschaft in Moskau
Inhalt: Das deutsche Konsulat in Odessa berichtet der Deutschen Botschaft in Moskau im Januar 1935 über das in einem Schauprozess über den Deutschen Röhrich aus Strassburg verhängte Todesurteil. In der Anlage ein Artikel in einer sowjetischen Zeitung darüber.

Abschrift
Deutsches Konsulat Odessa, den 15. Januar 1935
An die Deutsche Botschaft M o s k a u
 
Betr.: Repressalien wegen des Empfangs von Überweisungen aus Deutschland
 
Aus der Kolonie Strassburg, Rayon Selz, Gebiet Odessa, ist inzwischen ein weiteres Todesurteil gegen einen Kolonisten bekannt geworden, der für andere Personen Bittbriefe an das Hilfswerk „Brüder in Not“ geschrieben hat. Es handelt sich um den Kolonisten Michael Röhrich, der mit seiner Frau und seiner ältesten Tochter von 17 Jahren Anfang Januar in Strassburg vor ein sogenanntes Schaugericht gestellt und nach dreitägiger Verhandlung verurteilt worden ist. Er selbst wurde zum Tode verurteilt, die Frau zu 7 ½ Jahren Gefängnis, die Tochter wurde freigesprochen. Alle drei waren Mitglieder des örtlichen Kollektivs. Die Verurteilten sind nach Odessa gebracht worden, das Urteil ist noch nicht vollstreckt. Röhrich hat, einschliesslich der erwähnten Tochter, 7 Kinder.
Über die Tendenz des Schaugerichts unterrichtet das hierbei verbreitete in der Anlage beigefügte Flugblatt.
Röhrich und seine Frau haben auch auf dem hiesigen Konsulat Bittbriefe abgegeben, sind aber persönlich hier nicht bekannt. Das Konsulat ist in diese Verhandlungen auch nicht hineingezogen worden.
Angaben in dieser Angelegenheit sind dem Konsulat u. a. durch den in Strassburg ansässigen reichsdeutschen Graf gemacht worden. Graf wird, da er sich in kümmerlichen Verhältnissen befindet, vom Konsulat gelegentlich durch Torgsinüberweisungen unterstützt. In den Tagen der Gerichtsverhandlung gegen Röhrich ist Graf von mehreren Sowjetfunktionären, darunter dem die Anklage gegen Röhrich vertretenden Prokuror aus Selz, wegen der Unterstützung durch das Konsulat zur Rede gesetzt und ihm nahegelegt worden, hierauf zu verzichten. Es wurde ihm sogar eine zur Veröffentlichung bestimmte entsprechende Erklärung zur Unterschrift vorgelegt und ihm versprochen, ihm sofort 1 Pud Weizen und späterhin Steuererleichterungen zu geben. Graf hat jedoch alle diese Vorschläge abgelehnt. Doch bitte ich, von den Graf betreffenden Angaben des vorstehenden Berichts keinen Gebrauch zu machen.
 
gez.: R o t h.
 
 
[Anlage:]
S o n d e r a u f g a b e  der „Kollektivwirtschaft“  
Nr. 2
5. Januar 1935
 
Keine Verschonung den Feinden und Verrätern des sozialistischen Vaterlandes.
 
Der Prozess der Errichtung einer sozialistischen klassenlosen Gesellschaft geht in unserem Lande mit gigantischen Schritten vorwärts. Die kapitalistischen Elemente in unserer Volkswirtschaft sind schon fast gänzlich verdrängt. Sie spielen absolut keine Rolle mehr. Der Sozialismus siegt!
Die absterbenden Klassen aber, ihre Nachläufer und kontrarevolutionäre Elemente, welche noch nicht gänzlich vernichtet sind, suchen in ihren letzten Atemzügen noch Widerstand zu leisten – den Sozialistischen Aufbau zu untergraben.
Im Kampfe gegen die Diktatur des Proletariats – den Sozialismus, vereinigten sich die inneren klassenfeindlichen Elemente mit der äusseren Konterrevolution und Intervention, von welchen der deutsche Faschismus die Hauptrolle spielt.
Der Hitlerfaschismus bereitet sich energisch zu einem neuen Krieg vor, wobei man in erster Linie eine Intervention gegen die Sowjetukraine im Ziele hat.
Um seine Position zu stärken und eine Vorbereitungsarbeit zu leisten, sucht der Hitlerfaschismus in der Ukraine seine Agenten zu finden. Diese Agenten sucht er durch seine gültigen Hitlermarken zu kaufen. Diese Marken werden dem deutschen Proletariat abgezwackt, welches hungert und in den Konzentrationslagern des Faschismus schmachtet.
Heute gibt es in dem Hitlerdeutschland zirka 10 Millionen Arbeitslose.
Die Hitleragenten, welche sich in verschiedenen Anstalten und Kollektiven auch unseres Rayons verkrochen haben, schreiben Lügenbriefe über „Hungersnot“ und dergleichen bei uns. Sie verläumden [verleumden] dadurch unser sozialistisches Vaterland und sind somit Feinde aller Werktätigen.
Jeder, der eine Hitlermark annimmt, ist unser Feind – ist ein Hitleragent.
Ein solcher Hitleragent ist Röhrich Michael aus Strassburg. Dieser Feind der werktätigen Klasse, Verräter des sozialistischen Vaterlandes, schrieb im Jahre 1934 für 150-200 Mann über 500 Lügenbriefe an verschiedene faschistische Organisationen nach Deutschland, Polen u.a., in welchen er um „Hilfe“ bat.
Für jeden solchen Brief nahm Röhrich von 50 Kop. bis zu 1.50 Kop. Ausser ihm selbst schrieb solche Briefe seine Frau und seine Tochter Maria.
In diesen Briefen wurde die Sowjetunion aufs schärfste verleumdet und verschiedene Lügen über Hungersnot und Elend erdichtet.
Röhrich Michael mit seiner ganzen Familie ist ein zersetztes Element, welcher das Kollektiv zu untergraben bestrebt war, Kollektiveigentum gestohlen hat usw.
So hat Röhrich im Kollektiv „Neue Wirtschaft“ im Laufe des Jahres 1934 über 50 Pud Getreide gestohlen. Mit Röhrich Michael zusammen bei der Untergrabung des Kollektivs Anteilnehmer am Getreidediebstahl war der Brigadier der 1. Brigade Fischer Franz, Fischer Josef, Weimer H., Gehilfe des Brigadiers und Klein Jakob, Fuhrmann. Diese Bande mit Röhrich M. an der Spitze arbeitet systematisch an der Untergrabung des Kollektivs und führte konterrevolutionäre faschistische Agitation unter den Kollektivisten.
Heute verhandelt das Ausfahrtskollegium des Gebietsgerichtes die Angelegenheit dieser Feinde und Verräter des sozialistischen Vaterlandes.
Die proletarische Sowjetöffentlichkeit verlangt für diese Bande höchstes Ausmass des sozialen Schutzes.
Vernichten wir alle klassenfeindliche und konterrevolutionäre Elemente, welche unseren sozialistischen Aufbau zu untergraben suchen.
Heraus aus unseren Kollektiven und Anstalten mit allen klassenfeindlichen Elementen und Hitleragenten!
Es lebe die Diktatur des Proletariats und der Sieg des Sozialismus auf der ganzen Welt!
 
Ravlit Nr. 4. Auflage 300 Exp. Druckerei „Kollektivwirtschaft“ Selz
Redakteur W. Brandt.
 

Empfohlene Zitierweise:
Dokument Nr. 60, in: Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922-1941. Quellen-Datenbank. Hrsg. von Katrin Boeckh und Emília Hrabovec. URL: http://www.konnetz.ios-regensburg.de/dokumenteview.php?ID=60, abgerufen am: 15.11.2024.
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