Dokument Nr. 56
Kiew, den 29. Dezember 1933.
Inhalt: Verhaftung des deutschstämmigen Richard Göhring, Sohn des Pastors der evangelischen Gemeinde in Kiew.
Mit sicherer Gelegenheit
In der Nacht vom 25. zum 26. Dezember d.J. [diesen Jahres] ist der bei seinen Eltern wohnhafte Sohn des hiesigen evangelischen Pastors Göhring von der G.P.U. verhaftet worden. Gleichzeitig wurde eine Haussuchung durchgeführt, die anscheinend kein Ergebnis gezeitigt hat. Angeblich wollten die Beamten der G.P.U. auch den Pastor selbst festnehmen, konnten diese Absicht aber nicht ausführen, da er sich auf einer Dienstreise in den deutschen Kolonien in Wolhynien befand. Wie ich erfahre, hat sich die G.P.U. auch lebhaft für etwa in der Wohnung des Pastors vorhandene Valutabestände interessiert. Der verhaftete Richard Göhring war seit August d.J. [diesen Jahres] als ständiger Hauslehrer in meiner Familie tätig. Seine Anstellung erfolgte nach vorheriger Fühlungnahme mit dem Agenten des Aussenkommissariats, der mir versicherte, dass Göhring aus seiner Beschäftigung im Konsulat kein Nachteil erwachsen würde. Ausserdem hat er zeitweilig bei der Zusammenstellung der Listen der notleidenden Deutschstämmigen – und zwar durch Auszug von Namen und Adressen aus den mit der Sowjetpost eingehenden Bittbriefen – geholfen. Es handelte sich dabei um eine rein technische Arbeit, für die er sich als Kenner des wolhynischen Deutschtums während des grössten Ansturms der Gesuche zur Verfügung gestellt hat.
Eine Tätigkeit des Herrn Göhring beim Konsulat ausserhalb seiner Funktion als Hauslehrer liess unter den hiesigen Verhältnissen für alle Fälle eine Legitimierung gegenüber den Sowjetbehörden zweckmässig erscheinen. Sie erfolgte nach reiflicher Ueberlegung und mit seinem Einverständnis in der Form, dass er in den dem Agenten des Aussenkommissariats monatlich übersandten Aufstellungen der hier beschäftigten Arbeitskräfte nicht nur als ständiger Lehrer, sondern auch als vorübergehender Hilfsarbeiter im Kanzleidienst erwähnt wurde. Diese offiziellen Beziehungen zum Konsulat gaben mir die Möglichkeit, den Agenten des Aussenkommissariats am 27. Dezember d.J. [diesen Jahres] um Auskunft zu ersuchen, ob:
1) seine Verhaftung im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im Konsulat bezw. in meinem Hause stünde,
2) wie lange die Festnahme voraussichtlich dauern würde, da ich danach entsprechende dienstliche und persönliche Dispositionen treffen müsste.
Der Agent hat mir nach 24 Stunden – wie zu erwarten – mitgeteilt, dass die Verhaftung nicht das Geringste mit der Arbeit des Göhring im Konsulat zu tun hätte, er vielmehr im Verdacht stünde, ein „ernstes Verbrechen“ begangen zu haben. Ueber weitere Einzelheiten äusserte sich Herr Schenschew nicht.
Die allgemeinen Gründe für die Verhaftung dürften meines Erachtens in der seit der Novembertagung des Plenums des Zentralkomitees und der Zentral-Kontrollkommission der Ukrainischen Kommunistischen Partei verschärften Einstellung gegen das Deutschtum in der Ukraine zu suchen sein, der Persönlichkeiten aus den Kreisen der Intelligenz als erstes zum Opfer fallen. Inwieweit auch die Tätigkeit des Göhring beim Konsulat Anlass zu der Massnahme gegeben hat, kann heute noch nicht festgestellt werden. Dass sie ihn in den Augen der Sowjetbehörden belastet, steht ausser Zweifel. Ueber dieses Risiko war er sich – ebenso wie alle anderen Sowjetbürger, die im Interesse ihrer Volksgenossen irgendwie an der Hilfsaktion „Brüder in Not“ mitwirken – von Anfang an durchaus klar.
Es ist ferner möglich, dass die Festnahme des jungen Göhring in Zusammenhang mit den Verhaftungen der Mitglieder der Familie Schultz (zu vergl. Bericht vom 30. November d.J. [diesen Jahres] VI.c.2) steht, mit denen er persönlichen Verkehr gepflogen hat. Auch andere Bekannte der Brüder Schultz befinden sich jetzt in Gewahrsam der G.P.U.
Schliesslich wird von Persönlichkeiten, die mit der Praxis der G.P.U. vertraut sind, auch die Ansicht geäussert, dass sich Göhring durch Gründung und Leitung eines Kirchenchors, der zum ersten Mal am Heiligen Abend bei überfüllter Kirche in Erscheinung trat, das Missfallen der G.P.U. zugezogen hat. Ueberhaupt ist anzunehmen, dass der Aufschwung, den die hiesige evangelische Gemeinde in den letzten Monaten unter ihrem Pastor genommen hat, von den Sowjet- und Parteistellen mit feindseligen Augen betrachtet wird. Hinzu kommt, dass Pastor Göhring in seinen Predigten einen bewunderungswerten Bekennermut – nicht nur zu dem Evangelium, sondern auch zu seinem Deutschtum – zeigt, der hier leicht als konterrevolutionär ausgelegt werden kann. Unter diesen Umständen muss man auch auf eine nachträgliche Verhaftung des Pastors gefasst sein.
Es ist natürlich sicher, dass die G.P.U. versuchen wird, von Göhring Einzelheiten über die Arbeit des Konsulats zu erfahren. Sie dürfte damit aber kein Glück haben, da Göhring darüber keine Angaben machen kann, ganz abgesehen davon, dass er es selbst peinlich vermieden hat, sich irgendwie für Konsulatsfragen zu interessieren. Auch eine etwa unter Druck der G.P.U.-Methoden mögliche Kompromittierung der deutschstämmigen Hilfsbedürftigen kommt nicht in Frage, da Göhring unmöglich die Tausenden von Namen behalten konnte, die im Übrigen den Sowjetbehörden durch den Eingang der Überweisungen aus Deutschland ohnehin bekannt werden, soweit sie darüber nicht schon durch das Spitzelsystem in den Kolonien unterrichtet sind. Ueber die Persönlichkeit des jungen Göhring ist zu sagen, dass er in Deutschland Theologie studiert hat, in der Absicht, sich hier als Geistlicher zu betätigen. Er ist ein charaktervoller, verantwortungsbewusster Mann, woran auch die Tatsache nichts ändert, dass er einer der loyalsten Sowjetbürger ist, die ich hier kennen gelernt habe. Er hat immer versucht, das hiesige System, unter dem er als rechtloser Pfarrerssohn besonders zu leiden hat, zu verstehen und – wenigstens Ausländern gegenüber – zu verteidigen. Jedenfalls haben weder meine Mitarbeiter noch ich jemals eine antisowjetische Aeusserung aus seinem Munde gehört. Von seiner Unschuld bin ich fest überzeugt. Ein Durchlag für das Auswärtige Amt wird beigefügt. Das Generalkonsulat in Charkow erhält mit sicherer Gelegenheit unmittelbar Abschrift dieses Berichts.
gez. Henke