Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922–1941

Quellen-Datenbank

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Dokument Nr. 55

5. Hilfsdiplomatie, Kommunikationswege und Vermittler

Archiv des Deutschen Caritasverbandes e. V. (ADCV),
R 681,
Fasz. 01

Datum: 26. August 1933
Verfasser: Rektor der Caritas in Vertretung für den Direktor, Prälat Wienken
Empfänger: Erzbischof Bertram
Inhalt: Die Bildung des Reichsausschusses „Brüder in Not“ aus der Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Organisationen Caritasverband, Innere Mission und Weltorganisation der Mennoniten durch Einbeziehung einiger Ministerien und anderer Organisationen wie dem Verein für das Deutsche Volkstum im Ausland (VDA) ab 1933.

26. August 33.
 
Sr. Eminenz
dem hochwürdigsten Herrn Kardinal
Dr. Adolf  B e r t r a m
Erzbischof von Breslau.
z.Z. Fulda
 
 
Ew. Eminenz
 
erlaubt sich der Unterzeichnete als Vertreter von Herrn Prälaten Wienken, der sich z.Z. auf ärztlichen Rat hin einer Kur unterzieht, zur Beantwortung des Briefes vom 25. August 1933 Folgendes gehorsamst darzulegen:
Etwa seit dem Herbst vorigen Jahres wurden vor allem von den drei grossen kirchlichen Organisationen Caritasverband, Innere Mission und Weltorganisation der Mennoniten in grösseren Umfange Pakete an hungernde Glaubens- und Volksgenossen in Rußland geschickt. Nach dem politischen Umbruch in Deutschland wurde im Frühjahr 1933 die Arbeitsgemeinschaft der genannten Verbände durch den Hinzutritt der Vertreter einiger Ministerien und anderer Organisationen (z.B: V.D.A.) mit  b e r a t e n d e r   Stimme erweitert und erhielt den bewährten Namen: Reichsausschuß „Brüder in Not“. Dieser Reichsausschuß ist also eine rein caritative Einrichtung. Die Beteiligung der verschiedenen Ministerien soll aus vornehmlich außenpolitischen Gründen der Öffentlichkeit überhaupt nicht bekannt werden.
Ziel der Arbeit des Reichsausschusses ist, den notleidenden Deutschen, resp. Deutschstämmigen im Auslande, zu Hilfe zu kommen; bis auf geringe Teile der eingehenden Spenden werden fast alle für die schlimmste Not, die der Hungernden in Rußland, verwendet. Seit Beginn der Sammlungsaktion des Reichsausschusses „Brüder in Not“ im Juni 1933 sind – soweit bei der federführenden Stelle, dem Deutschen Roten Kreuz, bekannt – bis zum 25. August etwa 650 000,-M eingekommen. (Eine Sammlung von Naturalien und Kleidungsstücken wäre zwecklos, da Sendungen dieser Art von Rußland abgelehnt werden.) Es ist bestimmt anzunehmen, daß die tatsächlichen Ergebnisse noch höher sind, jedoch noch nicht gemeldet wurden.
Alle Spenden sollen möglichst auf das gemeinsame Konto überwiesen werden (Reichsausschuß „Brüder in Not“, Berlin, 85 000.), doch dürfen laut Vereinbarung auch die drei oben genannten kirchlichen Organisationen ihre besonderen Konten angeben. (Für die Katholiken: Deutscher Caritasverband, Hauptvertretung Berlin, Berlin 106 784). An sich ist es gleich, auf welches Konto Einzahlungen erfolgen, da alle einlaufenden Gelder untereinander verrechnet werden.
Für die Verteilung der Sammelerträge gilt folgende Regelung: Schätzungsweise leben noch etwa eine Million Deutschstämmige in Rußland, davon sind über 60% evangelisch, 15-20% katholisch, 15% Mennoniten, der Rest Baptisten, Pfingstbrüder usw. Nach Abzug der geringen Aufwendungen für die notleidenden Deutschen in der Tschechoslowakei werden alle einlaufenden Gelder so verteilt, daß das Evangelische Hilfswerk „Brüder in Not“ 60% erhält, der Caritasverband für die Katholiken 20%, die Mennoniten 15%. Die restlichen 5% verteilt das Deutsche Rote Kreuz unter Angehörigen der übrigen Bekenntnisse. Sollte ein Verband durch sein Sonderkonto mehr Geld erhalten, als ihm prozentmässig von dem Gesamteingängen zusteht, wird ihn selbstverständlich nicht zugemutet, dass er den Überschuss etwa auf das gemeinsame Konto abführt. Gerade aus dieser Regelung der Verteilung des Spendenertrages ergibt sich deutlich der rein caritative Charakter des Reichsausschusses „Brüder in Not“.
Bezüglich eines von Ew. Eminenz erwogenen Kollekten-Aufrufes der hochwürdigsten Herren Bischöfe darf ich mir wohl erlauben, zunächst einige Gründe anzuführen, die dagegen sprechen würden:
Bisher ist bei uns nur ein verhältnismässig geringer Teil der Anschriften der deutschstämmigen Katholiken in [der] Sowjetunion bekannt. Die Not im eigenen Lande ist gross, auch sind zu ihrer Behebung die meisten in Arbeit Stehenden mit Abgaben und Spenden reichlich belastet. Ferner besteht durchaus die Möglichkeit, dass eines Tages alle Hilfswege durch die Russen gesperrt werden. Schon seit Wochen wird durch die Zeitungen und Radiosender in Russland gegen die Sammlungsaktion in Deutschland protestiert. Des öfteren kommt es vor, dass die Annahme von Geldsendungen –  z w e i f e l l o s  unter dem Druck der Sowjetbehörden – verweigert wird. Doch dürften diese und andere Gründe reichlich aufgewogen werden durch folgende: Der Not im eigenen Lande steht die äusserste – leibliche und seelische – Not der Menschen in der UdSSR gegenüber. Selbst nach den vorsichtigsten Urteilen wirklicher Kenner der Lage sind seit dem Herbst vorigen Jahres mehrere Millionen Menschen in den Sowjetrepubliken verhungert. Im Reichsausschuss „Brüder in Not“, dem vertraulich die Berichte der diplomatischen Vertretungen Deutschlands in Rußland zugeleitet werden, ist man der wohlbegründeten, festen Meinung, daß die Hungerkatastrophe in den betroffenen Gebieten keineswegs geringer sein wird. Je stärker der Druck der öffentlichen Meinung – in Deutschland und in der ganzen Welt – wird, umso weniger ist eine Verhinderung jeglicher Hilfe für die Hungernden durch die Sowjetbehörden zu erwarten. Eine allzu starke Zurückhaltung gegenüber der Not der Glaubensbrüder dürfte auch den deutschen Katholiken auf die Dauer nicht zum Vorteil gereichen. Mit der Bitte um vertrauliche Behandlung kann ich mitteilen, daß seit dem Dezember 1932 bis heute auf das Konto des Caritasverbandes nur etwa 7000,-M eingezahlt worden sind. Gerade in den letzten Wochen liefen allerdings sowohl Spenden als auch Anschriften in größerem Umfange ein.
Nach diesen kurzen Darlegungen glaube ich Ew. Eminenz versichern zu dürfen, daß ein Aufruf des hochwürdigsten Episkopates vom Deutschen Caritasverband, aber auch von weiten Kreisen der katholischen Bevölkerung dankbar begrüßt würde.
Zugleich erlaube ich mir, Ew. Eminenz einen Artikel „Brüder in Not“ aus der August-Nummer der „Caritas“ in der Anlage zu übersenden.
 
In ehrfurchtsvoller Ergebenheit
Ew. Eminenz
ganz gehorsamster
 
Caritasrektor.

Empfohlene Zitierweise:
Dokument Nr. 55, in: Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922-1941. Quellen-Datenbank. Hrsg. von Katrin Boeckh und Emília Hrabovec. URL: http://www.konnetz.ios-regensburg.de/dokumenteview.php?ID=55, abgerufen am: 16.01.2025.
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