Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922–1941

Quellen-Datenbank

Dokument Nr. 53

5. Hilfsdiplomatie, Kommunikationswege und Vermittler

Segreteria di Stato, Sezione per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico (S.RR.SS.),
Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari (AA.EE.SS.),
Pro Russia (1932-1935),
Pos. Scat. 11,
Fasc. 73,
Fol. 72r-87r

Datum: 14. Dezember 1932
Verfasser: Heinrich Wienken, Deutscher Caritasverband, Direktor
Empfänger: Michel d’Herbigny, Kommission Pro Russia
Inhalt: Die deutsche Regierung unterstützt kulturelle Anstrengungen für die Deutschen in der Sowjetunion. Darunter fallen auch Geldzahlungen für katholische Geistliche, für die Erhaltung der mit hohen Steuern belegten Kathedrale von Saratov. Eine seltene Kontaktaufnahme eines deutschen Priesters aus der Wolgarepublik mit der Deutschen Botschaft in Moskau erbrachte ebenfalls Hilfestellungen für verfolgte Geistliche. Deutsche Katholiken und Mennoniten warten in Charbin auf die Ausreise nach Südamerika. Internationaler Aufruf der Caritas zur Unterstützung der Hungerleidenden in der Sowjetunion.
Betreff: Pastoration der deutschen katholischen Arbeiter in Russland.

Deutscher Caritasverband
Hauptvertretung
Berlin, den 14. Dezember 1932
 
Seiner Exzellenz
dem Hochwürdigsten Herrn Michael d’Herbigny
Bischof von Ilion, Präsident der Päpstlichen Kommission für Russland
Rom – Vatikan
 
Betr.: Pastoration der deutschen katholischen Arbeiter in Russland.
 
E w .   E x z e l l e n z !
 
Im Anschluss an das diesseitige Schreiben vom 21. Januar 1932 gestatte ich mir, Ew. Exzellenz ehrerbietigst mitzuteilen, dass die Deutsche Botschaft in Moskau zu der Anregung, die seelsorgliche Betreuung der deutschen Arbeiter in Russland ermöglichen zu helfen, in einem Schreiben an das Auswärtige Amt, das ich in der Anlage zur vertraulichen Kenntnisnahme beilege, Stellung genommen hat. (Anlage I.)
Gemäss dem Inhalt dieses Schreibens sind die Aussichten, dass in nächster Zeit mit der Pastoration der deutschen Arbeiter in Russland begonnen werden kann, sehr gering. Aber je mehr deutsche Arbeiter nach Russland auswandern -- darunter Familien mit Kindern --, um dort Arbeit und Brot zu suchen, um so stärker empfindet die Deutsche Regierung die Notwendigkeit, dass in  k u l t u r e l l e r  Hinsicht für diese Leute durch Einrichtungen von Schulen, Büchereien usw. gesorgt werde. Die Sowjetregierung wird sich, davon ist man überzeugt, hierbei in irgendeiner Weise zu Konzessionen bereitfinden lassen. Es wird diesehalb schon immer wieder zwischen der Deutschen Regierung und der Sowjetregierung verhandelt, und es darf erwartet werden, dass in nicht all zu langer Zeit eine Lösung gefunden wird. Vor wenigen Monaten konnte bereits in Moskau die erste deutsche Schule für reichsdeutsche Kinder eröffnet werden.
Mit der Schaffung dieser kulturellen Einrichtungen wird dann von selbst die Zulassung katholischer Lehrkräfte und ebenso katholischer Geistlicher zur Erteilung des Religionsunterrichtes und der weiteren religiösen Betreuung akut werden. Zu gegebener Zeit wird die Deutsche Regierung, wie sie hofft, es erreichen, dass die Einreise deutscher katholischer Geistlicher nach Russland seitens der Sowjetregierung gewährt wird. Es darf noch einmal betont werden, dass es der deutschen Regierung wirklich ernst mit ihrer Absicht ist, mitzuhelfen, dass die katholischen deutschen Arbeiter in Russland nicht ohne Seelsorge bleiben.
Erfreulich ist es, wie in diesem Zusammenhang bemerkt werden darf, dass die deutschen amtlichen Stellen in den zwei letzten Jahren ein ausserordentlich lebhaftes Interesse für das Schicksal der armen deutschstämmigen Katholiken in Russland, vor allem der katholischen Priester, zeigen. Die Deutsche Botschaft unterstützt, wie ich vertraulich mitteilen darf, regelmässig die katholischen Geistlichen mit Liebesgaben: Geld, Kleidung, Nahrungsmittel. Im laufenden Jahre wird hierfür ein Betrag von 12.000 – Mark aufgewandt. U.a. wurden:
im Juni d. Js. [diesen Jahres]  an 13 Geistliche Rubelbeträge und
an 14 Geistliche Lebensmittelpakete,
im August ds. Js. [diesen Jahres] an 15 Geistliche Geldbeträge und
an 17 Geistliche Lebensmittelpakete und
im September d. Js. [diesen Jahres] an 2 Geistliche Geldbeträge und
an 17 Geistliche Lebensmittelpakete
zugeleitet. Interessant ist ein vertraulicher Bericht aus Moskau, der hierauf Bezug nimmt und den ich Ew. Exzellenz in der Anlage zur gütigen vertraulichen Kenntnisnahme beilege. Ein zweiter Bericht folgte im November d. Js. [diesen Jahres]. Er wird auch in der Anlage zur gütigen Kenntnisnahme beigelegt. (Anlagen II. und III.)
Vor einigen Tagen erhielten wird sodann zur Kenntnisnahme einen Bericht über die katholische Gemeinde in Taschkent, der als Anlage IV beigefügt wird. Selbstverständlich werden wir dafür Sorge tragen, dass der in diesem Schreiben erwähnte katholische Geistliche Jarmolowitsch durch uns Liebesgaben zugeschickt erhält. (Anlage IV.)
Was die Erhaltung der Kathedrale in Saratow, über die im Bericht III die Rede ist, betrifft, so ist mit dem Auswärtigen Amt vereinbart worden, dass der Betrag von 5.000.- Rubel = 5.000.- Rmark gezahlt wird. Das Auswärtige Amt wird 3.000.- Mark zahlen, der Restbetrag wird anderweitig aufgebracht.
Da, wie uns bekannt ist, die Hungersnot in Russland zur Zeit sehr bedrohliche Formen angenommen hat, so sind, in Vereinbarung mit dem Auswärtigen Amt, in beschränktem Umfange Hilfsaktionen zu Gunsten der Hungernden in Russland, besonders der Deutschstämmigen eingeleitet worden. In diesen Tagen haben wir seitens des Deutschen Caritasverbandes beigefügten Aufruf an mehr als 80 Sonntagsblätter zur Veröffentlichung geschickt. Aus besonderen Gründen kann der Aufruf von politischen Tageszeitungen nicht veröffentlich werden, weil dann befürchtet werden muss, dass seitens der Sowjetbotschaft in Berlin die ganze Aktion gefährdet wird. Auch haben wir im Auslande, in den Vereinigten Staaten und Kanada um Einleitung einer Hilfsaktion gebeten.  – (Anlage V.)
Leider hat die Ueberführung der deutschrussischen Flüchtlinge, die sich immer noch in Harbin befinden, nach Süd-Amerika immer noch nicht stattfinden können. Wir schrieben Ew. Exzellenz bereits über diese Angelegenheit im Februar ds. Js. [diesen Jahres]. Da es uns in Deutschland unmöglich ist, die für die Ueberführung der 48 Katholiken und deren Ansiedlung in Süd-Amerika benötigte Geldsumme – etwa 37.000.- Mark – aufzubringen, so hatten wir gehofft, dass die deutschen Katholiken in den Vereinigten Staaten uns helfen würden. In einem Schreiben vom September ds. Js. [diesen Jahres] war auch eine Hilfe in ziemlich sichere Aussicht gestellt. Leider aber ist bis heute noch keine endgültige Zusage erfolgt. Vor wenigen Tagen haben wir erneut wieder in St. Louis nach dem Stand der Angelegenheit Erkundigungen eingezogen. Im vorigen Monat besuchte uns ein Herr Wiebe, der drei Jahre lang die Flüchtlingslager in Harbin geleitet hat, und berichtete über die Lage der dortigen Flüchtlinge. Er war besonders von der katholischen Gruppe beauftragt worden, uns mitzuteilen, dass man mit grosser Sehnsucht auf den Abtransport von Harbin wartet. Da die Katholiken immer noch in Unsicherheit sind, ob ihnen tatsächlich geholfen wird, sind sie durch das lange Warten ganz verzweifelt. Infolge der riesigen Ueberschwemmungen, die im Sommer in Harbin und Umgegend waren, sind die wirtschaftlichen Verhältnisse sehr schlecht geworden. Es herrscht grosser Mangel an Kleidung, und auch die Verpflegung lässt sehr zu wünschen übrig. Wie ich Ew. Exzellenz bereits mitteilte, ist in Süd-Amerika alles für die Aufnahme der Flüchtlinge vorbereitet. Auch sind die Verhandlungen mit den Schiffahrtsgesellschaften eingeleitet. Es braucht demnach nur das Geld zur Verfügung stehen, um sofort mit dem Transport der Leute beginnen zu können. Allerdings ist daran gedacht, dass die katholische Gruppe zusammen mit der mennonitischen Gruppe die Ueberfahrt nach Süd-Amerika antritt, weil dadurch die Transportkosten wesentlich verringert werden. Hoffentlich wird nun aus Amerika die erbeten Hilfe kommen. Wir werden uns erlauben. Ew. Exzellenz dann später weitere Mitteilung zu geben.
Als Anlage IV erlauben wir uns noch einen Bericht über die Lage der römisch- katholischen Kirche in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen zu überreichen, der sicherlich das Interesse Ew. Exzellenz finden wird. (Anlage VI.)
In ehrfurchtsvoller Ergebenheit!
gez. Heinrich Wienken
Direktor.
 
 
6 Anlagen
 
Anlage I.
A b s c h r i f t .
 
V E R T R A U L I C H !
 
Mit verbindlichem Dank bestätige ich Ihre freundlichen Zeilen vom 15.d.M. [dieses Monats] und freue mich, Ihnen mit der fortlaufenden Uebermittlung der bei der Botschaft über die Lage der deutschen katholischen Geistlichen in der UdSSR eingehenden Nachrichten gedient zu haben.
Was die von Ihnen in Verbindung mit dem Schreiben des Deutschen Caritasverbandes aufgeworfene Frage bezüglich der Entsendung eines reichsdeutschen katholischen Geistlichen nach der UdSSR betrifft, so möchte ich Ihnen vor allem mitteilen, dass dieser Frage der Herr Botschafter persönlich das lebhafteste Interesse entgegenbringt. Er ist in letzter Zeit wiederholt auf diesen Punkt zurückgekommen und hat dabei ausdrücklich betont, dass ihm an einer positiven Lösung ausserordentlich gelegen sei, was auch darin zum Ausdruck gekommen ist, dass er bei Herrn Krestinski diesen unseren Wunsch schon vor geraumer Zeit vertreten hat. Der Herr Botschafter hat ferner gelegentlich der Reise des Legationssekretärs P. nach Swerdlowsk Anfang Dezember v.J. [vorherigen Jahres] diesen beauftragt, die Sachlage in Swerdlowsk zu klären und die dortigen reichsdeutschen Ingenieure und Techniker, die seinerzeit eine Petition an die Botschaft wegen Erhaltung der katholischen Kirche in Swerdlowsk gerichtet hatten, näher zu befragen. Dabei hat Herr Pfeiffer leider die Feststellung machen müssen, daß das tatsächliche Interesse der wenigen katholischen Ingenieure und Techniker an der Sache ausserordentlich gering ist. Sie erklärten ihm einstimmig, dass sie von sich aus niemals mit einem solchen Antrag hervorgetreten wären, wenn sie nicht zufällig von einigen ortsansässigen Katholiken dazu bewogen worden wären. Jedenfalls hätten sie dabei nicht aus einem eigenen inneren Bedürfnis heraus gehandelt. Aehnliche Beobachtungen sind auch anderen Stellen der UdSSR bei hier eingewanderten oder vorübergehend anwesenden reichsdeutschen Katholiken gemacht worden.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Zurückhaltung nicht zuletzt durch den kirchenfeindlichen Kurs der Sowjetregierung hervorgerufen ist, der bei den meisten die nicht unberechtigte Befürchtung erweckt, dass sie sich durch eine offene Bekundung ihrer religiösen Bedürfnisse bei ihrem Arbeitgeber in ein unliebsames Licht bringen könnten. Aber auch abgesehen hiervon würde die praktische Verwirklichung Ihres Gedankens, die hiesigen Reichsdeutschen durch einen oder mehrere aus Deutschland zu entsendende reichsdeutsche katholische Seelsorger zu betreuen, kaum zu überwindenden Schwierigkeiten begegnen. Ich fürchte vor allem, dass die Sowjetregierung, der bei der Beantragung des Sichtvermerks unbedingt reiner Wein eingeschenkt werden müsste, die Erteilung der Einreisegenehmigung ablehnen, zum mindesten aber zum Gegenstand langwieriger Verhandlungen machen würde. Sollte es trotzdem gelingen, dieses Hindernis zu überwinden, dann entsteht die Frage, wo die Gottesdienste stattfinden sollen. Die Reichsdeutschen sind auf dem gewaltigen Territorium der UdSSR zerstreut und als Ingenieure und Techniker zum Teil in ganz unwirtschaftliche Gegenden des Ostens verschlagen, wo fast nirgend Gotteshäuser zur Verfügung stehen, in denen die geistlichen Handlungen vorgenommen werden könnten. Gleichzeitig muss aber mit Sicherheit damit gerechnet werden, dass sich wohl nirgends so mutige und glaubenstreue Katholiken finden werden, die es wagen würden, ihre Privaträume, soweit sie infolge ihrer Beschränkungen hierfür überhaupt in Frage kommen, für kirchliche Zwecke zur Verfügung zu stellen. Bei den ungeheueren Hindernissen und Misshelligkeiten bei der Fortbewegung in diesem Lande, dem tagelangen Warten auf den Erhalt von Fahrkarten, den Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung u.a.m. ist zu fürchten, dass der ideelle Nutzeffekt der Aktion in keinem Verhältnis stehen wird zu dem Aufwand der zu seiner Durchführung erforderlichen materiellen Mittel. Dazu kommt, dass der Möglichkeit einer religiösen Einwirkung auf die reichsdeutsche katholisch[e] Jugend in der UdSSR, - soweit eine solche hier überhaupt vorhanden ist, - durch das Verbot, Religionsunterricht an Minderjährige zu erteilen, sehr enge und harte Schranken gesetzt sind.
Es bleibt schliesslich die Frage, ob es möglich und zweckmässig erscheint, bei der Sowjetregierung die Genehmigung zur Stationierung eines katholischen Geistlichen bei der Deutschen Botschaft in Moskau zu beantragen. Zu dieser Frage hat sich meines Wissens Herr Pater Schlund nach seiner Rückkehr nach Deutschland dahin geäussert, dass er die Betätigungsmöglichkeiten für den Geistlichen angesichts des hier herrschenden Ueberwachungsdienstes für verschwindend gering halte.
Es war meine Pflicht, Ihnen, sehr verehrter Herr T., die bestehenden Schwierigkeiten in aller Offenheit darzulegen. Ich bitte Sie aber glauben zu wollen, dass wir keine Mühe scheuen würden, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, wenn wir uns auch nur einen geringen Erfolg davon versprächen.
 
Unterschrift.
 
 
 
Anlage II.
Vertraulich!
 
Am 15. d.M. [dieses Monats] hat die Botschaft unter Tgb. Nr. E.118/32 über die Lage der römisch-katholischen Kirche in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen berichtet. Im Anschluss daran möchte ich Ihnen heute noch einige Einzelheiten übermitteln, die sich für die Verwendung in einem Bericht nicht besonders eignen, die sich aber vielleicht durch gesprächsweise gegenüber den an diesen Fragen interessierten Kreisen verwerten liessen.
Einer der 4 Geistlichen, die zurzeit noch in der Wolga-Republik tätig sind, nämlich Pater H., war persönlich auf der Botschaft. Von ihm stammen zum grössten Teil die in dem Bericht enthaltenen Aufgaben. Pater H. war nach Moskau gefahren, um hier mit Bischof Neveu Fühlung zu nehmen. Insbesondere wollte er den Rat des Bischofs Neveu wegen der Erlangung des päpstlichen Dispens für den verheirateten Model einholen, der möglichst bald zum Priester geweiht werden soll. Bischof Neveu war jedoch in diesen Tagen krank und deshalb nicht in der Kirche anzutreffen. Auf der französischen Kirche war seine Adresse auch nicht zu erfahren.
Pater H. fasste sich dann ein Herz und kam auf die Deutsche Botschaft, wo er Gelegenheit fand, sich mit Herrn Leg.-Sekretär Pfeiffer gründlich auszusprechen. Das ist das erste Mal seit längerer Zeit, dass ein deutschstämmiger Geistlicher trotz des damit verbundenen Risikos den Weg zur Botschaft gefunden hat.
 Herr Pfeiffer war auch in der Lage, Pater H. die Adresse des Bischofs Neveu zu geben. Was er im einzelnen mit diesem vereinbart hat, hoffe ich in nächster Zeit zu erfahren.
Für Pater H. war es eine grosse Erleichterung, sich einmal offen aussprechen zu können. Die Geistlichen in der Wolgarepublik leben in einer so starken Isolierung, wie man sich das sonst bei der katholischen Kirche kaum vorstellen kann. Sie haben keine Fühlung mit ihren geistlichen Ober[e]n und wissen daher auch nicht, wie sehr man um ihr Los besorgt ist. Es war für Pater H. eine Ueberraschung, aber auch eine sehr grosse Freude zu hören, dass die ganze katholische Welt mit lebhafter Anteilnahme das Schicksal der Kirche und der Geistlichen in der Sowjetunion verfolgt.
Aus den über das Auswärtige Amt zur Verfügung gestellten Mitteln konnte Pater H. ein Betrag von Rbl. 200.- übergeben werden. Das bedeutet für ihn und die anderen katholischen Geistlichen der Wolgarepublik eine sehr wesentliche Förderung.
Um Pater H. nicht der Gefahr auszusetzen, in der Nähe der Botschaft abgefangen und verhört zu werden, brachte ihn Herr Pfeiffer mit einem Auto fort und setzte ihn in einer belebten Strasse ab. Pater H. war sichtbar gerührt und äusserte im Auto: „Das ist eine der glücklichsten Stunden meines Lebens“. Dabei ist er nach Pfeiffers Beschreibung, nicht etwa sentimentaler Salongeistlicher, sondern ein ziemlich robuster Bauernpfarrer.
Ich hoffe, dass sich nunmehr von Zeit zu Zeit wenigstens die Möglichkeit bietet, auch über die Geistlichen im Wolga-Gebiet etwas zu erfahren. Ich werde nicht verfehlen, Sie immer auf dem Laufenden zu halten, sei es durch Berichte oder durch Privatbriefe.
 
 
 
Anlage III.
 
Abschrift.
 V E R T R A U L I C H .
 
Der deutsche katholische Geistliche H. aus dem Wolgagebiet war Ende September wieder in Moskau. Es ist gelungen, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Pater H. sprach zunächst in aufrichtiger Bewegung Dank aus für die Hilfe, die ihm und seinen Mitbrüdern zuteil geworden ist. Sowohl die im Wolgagebiet noch tätigen Geistlichen als auch die verschickten Priester, deren Adresse er seinerzeit habe angeben können, hätten Lebensmittel und Geld erhalten. Von den Verschickten habe der eine oder andere bisher noch nicht antworten können, da er selten Postgelegenheit habe. Jedoch stehe er persönlich mit ihnen in einer wenn auch losen und unregelmässigen Verbindung. Pater H. versicherte, dass diese Hilfe allen Geistlichen wieder neuen Mut gegeben habe, dass sie von der ganzen Welt vergessen seien. Er war auch in der Lage, mehrere bisher unbekannte Adressen von verschickten Geistlichen anzugeben, sodass es nunmehr möglich sein wird, auch diese zu unterstützen. Im allgemeinen [Allgemeinen] soll die Lage der Verschickten zur Zeit nicht allzu trostlos sein; sie werden, soweit sie in Lagern untergebracht sind, zum grössten Teil in der Kanzlei verwendet.
Von grosser Wichtigkeit erscheint, was Pater H. von der Kirche in Saratow erzählte. Die Gemeinde der grossen katholischen Kirche in Saratow, die die Kathedralkirche der Diöcese Tiraspol ist, konnte seit zwei Jahren die Steuern nicht mehr entrichten. Vor einigen Monaten erging deshalb die Weisung zur Schliessung der Kirche. Die Kirchengemeinde legte Einspruch ein und erlange einen Beschluss, wonach bis zur endgültigen Entscheidung über die Steuerbeschwerde die Kirche offen bleiben soll. Es besteht als die Gefahr, dass die Kirche jederzeit dem Gottesdienst entzogen werden kann. Diese Gefahr kann durch Zahlung der fälligen Beträge abgewendet werden. Es handelt sich um eine Summe von 5 000 Rubeln; dabei sind einbegriffen die fälligen Steuern, die Steuerstrafe und die Kosten für die Unterhaltung. Wird dieser Betrag aufgebracht so kann die Kirche für einige Zeit als gesichert gelten.
Pater H. hob nachdrücklich hervor, dass die Schliessung gerade im gegenwärtigen Augenblick ein schwerer Schlag sein würde. In der drückenden Not der letzten Monate ist das religiöse Leben zu einer noch vor kurzem kaum denkbaren Blüte erwacht. Die Bevölkerung hat sogar ihre Angst und Scheu gegenüber der Partei verloren. Sie stützt sich auf die gesetzlichen Bestimmungen, die formell die Freiheit der Kirche gewähren, und verlangt, dass man den Geistlichen und der Kirche die Möglichkeit zur Betätigung gibt, Tatsächlich werden auch den Geistlichen in der letzten Zeit nicht mehr so grosse Hindernisse in den Weg gelegt. Man gestattet ihnen z.B. stillschweigend, obwohl das den geltenden Bestimmungen nicht entspricht, geistliche Handlungen auch ausserhalb ihres Bezirks vorzunehmen. Das ist besonders wichtig, weil ja in dem grossen Wolgagebiet nur noch ganz wenige Geistliche tätig sind. Die wiedererwachende religiöse Bewegung würde natürlich stark gehemmt, wenn nun die Kathedralkirche geschlossen werden würde.
 
 
 
Anlage IV.
Abschrift
V E R T R A U L I C H .
 
In Taschkent wurde von ungarischen Kriegsgefangenen der Bau einer grossen katholischen Kirche begonnen. Der Bau konnte aber nicht ganz zu Ende geführt werden. Die Bauweise war so solide, dass es bisher nicht gelang, die Mauern niederzureissen. Die Kirche steht mit ihrer sehr eindrucksvollen Fassade noch jetzt, ist aber nicht in Benutzung. Der katholische Gottesdienst findet in einem Betsaal statt. Es besteht eine katholische Gemeinde von etwa 2000 Seelen. Infolge des Zustroms aus dem Wolgagebiet bilden die Deutschen jetzt den hauptsächlichsten Bestand der Gemeinde. Es ist ein katholischer Priester für ganz Mittel-Asien vorhanden. Er ist Weissrusse von Geburt, 40 Jahre alt und ist am grossen Seminar in Leningrad vor dem Kriege ausgebildet worden. Nach seinen Angaben sind die deutschen Mitglieder die eifrigsten. Der Geistliche lernt bei der Frau des evangelischen Pastors Deutsch, um auch in deutscher Sprache predigen zu können. Die Adresse des Geistlichen lautet:
Anton Jarmolowitsch
2. Turch Jangischachar H. 4, 63.
Er ist völlig abgeschnitten von der Verbindung mit der katholischen Hierarchie und bezieht von keiner Seite Unterstützung. Bis vor kurzem war er 7 Monate in Haft wegen angeblicher „Hooliganstwo“ [huliganstvo, russ. Rowdytum, ein strafrechtlich relevanter Tatbestand in der Sowjetunion]. Er bezeichnet das religiöse Leben als sehr lebendig und gut. Es würde für ihn eine grosse Erleichterung bedeuten, wenn er durch Torgsin eine Unterstützung erhalten könnte.
 
 
 
Anlage V.
 
A U F R U F !
LIEBESGABEN für VERWANDTE und FREUNDE in SOWJETRUSSLAND.
 
Aus zahlreichen Nachrichten, die täglich eintreffen, sehen wir, dass die Notlage unserer Brüder in der Sowjetunion sich von Tag zu Tag steigert. Gross ist die Not in Deutschland, in Europa und Amerika – vielmals grösser ist sie im Osten.
Auf Grund von Abmachungen mit den Sowjetbehörden bieten sich aber für diejenigen, die Verwandte und Freunde in der Sowjetunion haben, durch unsere Vermittlung sichere Wege, an ihre Angehörigen und Bekannten in der Sowjetunion Pakete aus dem Ausland oder über die staatliche russischen Torgsingeschäfte Geld oder Waren zu senden.
Erprobte Typenpakete mit Lebensmitteln und anderen Waren oder nach Wunsch auch Einzelzusammenstellungen können zum Versand gebracht werden. Preislisten und Vorschläge stehen auf Wunsch gern zur Verfügung. Der Versand selbstgepackter Pakete muss bis auf weiteres als untunlich bezeichnet werden. Wir dürfen deshalb darum bitten, von der Zusendung solcher Gaben freundlichst Abstand zu nehmen
Barüberweisungen für bestimmte Personen können ebenfalls durch unsere Vermittlung an die staatlichen Torgsingeschäfte in der Sowjetunion in jeder Höhe getätigt werden. Die Torgsingeschäfte teilen den Bedachten die überwiesene Summe mit und führen soweit möglich, ihre Warenbestellungen aus.
Bei den deutschen Vertrauensstellen liegen viele Bittgesuche von notleidenden Personen vor, die in Deutschland keine Angehörigen haben, ebenso solche von mittellosen deutschen Bittstellern um Hilfeleistungen für ihre Angehörigen in der Sowjetunion.
Wer Verwandte und Freunde in der Sowjetunion hat, darf keinen Tag mehr säumen! Deshalb sendet Geld und Bestellungen!
Wer keine Verwandten oder Freunde in Sowjetrussland zu bedenken hat, der möge an die denken, denen niemand hilft und für sie Geldspenden zur Verfügung stellen! Jedes Scherflein ist willkommen und bringt Segen!
 
Berlin, N.24.
DEUTSCHER CARITASVERBAND
Hauptvertretung Berlin.
Oranienburgerstrasse 13/14
d.7. XII. 1932
 
 
 
Anlage VI.
Abschrift.
 
S T R E N G   V E R T R A U L I C H !
 
Die Lage der römisch-katholischen Kirche in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen.
 
Das europäische Russland bildet kirchenrechtlich noch heute einen Teil der Diöcese Tiraspol. Zu dieser Diöcese gehören in der Sowjetunion 4 Apostolische Administraturen: Krim (mit dem Sitz in Odessa), Kaukasus (mit dem Sitz in Piatigorsk), Saratow und Moskau.
Die Autonome Republik der Wolgadeutschen untersteht der Apostolischen Administratur in Saratow. In Saratow war früher ein kleines und ein grosses Seminar, in dem der Nachwuchs für den Klerus ausgebildet wurde. Die Stelle des Administrators ist seit der Verhaftung des Pastors Baumtrog verwaist. Die Seminare sind aufgelöst.
Die Seelenzahl in den katholischen Gemeinden betrug noch vor 2 Jahren rund 55 000. Zurzeit sind davon noch etwa 20% vorhanden. Diese Abnahme ist zurückzuführen auf die allgemeine Entvölkerung des Landes. Auf dem flachen Lande herrscht der Hunger und zwar in den Kollektivwirtschaften noch stärker als bei den Einzelbauern. Es hat daher eine Abwanderung hauptsächlich nach den Städten, nach Baku, Taschkent, Pokrowsk, Pensa, Samara u.s.w eingesetzt. Die Bauern, die noch ein Pferd hatten, verdienen sich in der Stadt durch Fahrten ihren Unterhalt.
 
Von den deutschstämmigen katholischen Priestern aus der Wolgarepublik sind weitaus die meisten verhaftet und verschickt. Zehn deutschstämmige Priester sind auf die Solowezki-Inseln verbannt, dreizehn andere sind verschickt.
Zurzeit sind in der Wolga-Republik noch vier deutschstämmige katholische Geistliche tätig, nämlich:
Pater BADER in Louis (Kanton Marienthal), 36 Jahre alt.
Pater HERMANN in Saratow, 48 Jahre alt.
Pater DIETRICH in Preuss (Kanton Seelmann), 33 Jahre alt.
Pater BRUNGART, Michael, in Hildmann, 58 Jahre alt.
Ausserdem leben in der Wolga-Republik noch:
Pater SCHNEIDER in Leichtling, 80 Jahre alt,
Pater BACH, Peter, in Neu-Obermonjou, 78 Jahre alt.
Wegen ihres hohen Alters können sie kaum mehr eine geistliche Tätigkeit ausüben.
Hervorzuheben ist, dass diese Geistlichen alle aus dem Seminar in Saratow hervorgegangen sind. Die Priester, die ihre Ausbildung ausserhalb Russlands empfangen haben, sind alle verhaftet oder verschickt.
In Saratow besteht auch eine polnische Gemeinde, jedoch ohne Geistlichen. Sie wird durch Pater Hermann versorgt. Ausserdem lebt dort ein russischer römisch- katholischer Geistlicher, namens Anissimow, der erst kürzlich 6 Monate in Haft war.
Geistlicher Nachwuchs kann unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht herangebildet werden. Für das geistliche Amt ist zur Zeit ein einziger Kandidat vorhanden, er heisst  M O D E L , Alexander, ist 36 Jahre alt, und hat früher das kleine Seminar in Saratow und von dem grossen Seminar zwei Kurse absolviert, hat aber die Weihen nicht empfangen, sondern sich später verheiratet. Zur Zeit ist er in einem Kollektiv in Basa, Kanton Marxstadt, tätig. Er hat seine Studien privat fortgesetzt und will sich jetzt zum Priester weihen lassen. Seine Frau ist damit einverstanden. Es muss jedoch zunächst die kirchliche Dispens vom Band der Ehe von Rom eingeholt werden. Bisher war es aber auch nicht möglich, mit Rom in Verbindung zu treten.
Leben und Arbeit erfordern von den katholischen Priestern der Wolga-Republik grosse Charakterstärke. Sie sind ganz auf sich allein gestellt. Sie haben keinen Administrator, niemanden, der ihnen Weisungen gibt und niemanden, von dem sie Entscheidungen einholen können. Von der Verbindung mit der kirchlichen Hierarchie sind sie vollkommen abgeschnitten. Sie können sich mit niemanden über die Entwicklung und über ihre Sorgen aussprechen. Jeder von ihnen war schon kürzere oder längere Zeit verhaftet. Aber sie halten aus.
Der Ausübung des geistlichen Amtes stehen in der Wolga-Republik die gleichen Schwierigkeiten wie anderwärts entgegen. Die 4 Geistlichen müssen, um einigermassen das kirchliche Leben aufrechtzuerhalten, im Fuhrwerk von Gemeinde zu Gemeinde fahren. Auf dem Lande ist es wegen der fast völligen Kollektivierung schwierig, ein Fuhrwerk zu bekommen. Wer den Geistlichen fährt, setzt sich leicht Unannehmlichkeiten aus. In der Stadt ist es verhältnismässig leichter, ein Fuhrwerk auch zu Fahrten über Land zu mieten.
Das Einkommen der Geistlichen ist völlig ungewiss. Sie leben von den Almosen der Gemeinde. Im letzten Jahr ist aber die Lage aller Bewohner so schlecht geworden, dass niemand mehr nennenswert zum Unterhalt der Priester beitragen kann.
Die steuerliche Belastung der Kirche und der Geistlichen ist so hoch, dass die nötigen Beträge nicht aufgebracht werden können. In Saratow hat die Gemeinde seit 2 Jahren keine Steuer mehr bezahlt. Trotzdem ist die Kirche nicht weggenommen worden.
Ueberhaupt ist im letzten Jahr in dieser Frage eine etwas nachsichtigere Behandlung festzustellen. Sie beruht wohl darauf, dass man der Kirche keine besondere Widerstandskraft mehr zutraut.
Das religiöse Leben steht trotz aller Schwierigkeiten in Blüte. Es ist sogar vielfach besser als früher. In den einzelnen Gemeinden sind nur ganz wenige Mitglieder aus der Kirche ausgetreten und betätigen sich in antireligiösem Sinne.
Eine religiöse Erziehung der Jugend durch den Geistlichen ist auch in der Wolga-Republik unmöglich. Da der Katechetenunterricht an Minderjährigen verboten ist, kann eine gewisse religiöse Erziehung nur durch das Elternhaus und durch die Predigt vermittelt werden. Trotzdem sind nur ganz wenige Jugendliche beim kommunistischen Jugendverband.
Die vorstehenden Mitteilungen sind von zuverlässiger Seite gemacht worden. Um ihre streng vertrauliche Behandlung darf gebeten werden.
 
1932

Empfohlene Zitierweise:
Dokument Nr. 53, in: Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922-1941. Quellen-Datenbank. Hrsg. von Katrin Boeckh und Emília Hrabovec. URL: http://www.konnetz.ios-regensburg.de/dokumenteview.php?ID=53, abgerufen am: 06.12.2024.
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