Dokument Nr. 22
DEUTSCHER CARITASVERBAND
Freiburg i.Br., den 7. April 1923.
Euer Eminenz
beehre ich mich, nachstehend meine Beobachtungen in Russland anlässlich eines grösseren Liebesgaben Transports im Herbst 1922 zur Linderung der Not der dortigen Deutsch-Katholischen Kolonisten gehorsamst zu unterbreiten.
Im Auftrag Seiner Eminenz, des Herrn Kardinals Fürstbischof Bertram in Breslau, habe ich mich vertraulich bemüht, bei den Geistlichen der deutschen Kolonien in Russland zuverlässige Angaben zu erhalten, ob und wo sich in naher Zeit ein Arbeitsfeld für Missionierung in Russland durch deutsche Priester eröffnen würde und welche Orden neben Weltpriestern am ehesten Zutritt erlangen würden.
Auch glaube ich, dass einzelne Mitteilungen über die allgemeine Lage der römisch-katholischen Geistlichen in den deutschen Kolonien und über die sonstigen kirchlichen Verhältnisse in Russland die Teilnahme Euer Eminenz haben werden.
Ich habe, zumeist in Begleitung von Personen, die mit den Verhältnissen der russisch-orthodoxen Kirche, mit ihren Riten und Gebräuchen gut vertraut waren, den Gottesdiensten in den verschiedensten russischen Kirchen beigewohnt, wie im Dom zu Odessa; in der Kaufmannskirche, der griechischen Kirche und dem Sobor von Nikolajew; in der Erlöser-Kirche und der Blagowjewtschenskij-Kathedrale in Moskau und in den einzelnen Kirchen in Saratow an der Wolga.
Durch gleichzeitige Lektüre der einschlägigen Literatur (z.B. Die religiöse Psyche des Russischen Volkes von Prof. Dr. Felix Haase, Vorstand des Osteuropa-Institut in Breslau, Teubner, Leipzig 1921.), wie einem Vortrag des Professors des öffentlichen Rechts an der Universität Petersburg, Herrn N. Timascheff in der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas in Berlin, war ich in der Lage, meine Beobachtungen zu ergänzen und zu vertiefen.
Eine kurze Skizzierung der gegenwärtigen Lage der russischen Kirche erscheint mir erforderlich.
Seit 1921 ist nach einer Zeit des Aufschwungs der russisch-orthodoxen Kirche eine schroffe Wendung eingetreten.
Es dämmerte den klugen russischen Machthabern auf, dass in der ungeahnter Weise wiedererwachten kirchlichen Gesinnung der grossen Masse des russischen Volkes, im Stillen eine Macht heranreift, die der bolschewistischen Machtstellung gefährlich werden könnte.
Die russische Sowjetregierung, die durch ihr mit allen Mitteln ausgebautes Spionagesystem, von den Vorgängen Kenntnis erhielt, kam zu der durchaus richtigen Erwägung: Wie kann die russische Regierung diese unleugbar vorhandene grosse kirchliche Bewegung für ihre Zwecke ausnutzen?
Es fragt sich nur, welche Kampfform zur Anwendung gelangen sollte.
Eine brutale Niederwerfung der Kirche wäre sehr wohl möglich gewesen. Es scheint indessen, dass aus rein taktischen Erwägungen, nicht etwa aus Ehrfurcht vor der Kirche, diese Kampfform nicht gewählt worden ist. Einmal weil hierdurch diese vorhandene Kraft wohl zerstört oder wenigstens eingedämmt worden wäre, indessen hierdurch keine neue Kraft für die Regierung hätte gewonnen werden können; dann aber hatten sich die neuen Machthaber wohl durch gründliches Studium der französischen Revolution davon überzeugt, dass das Aufsteigen Napoleons, der dem französischem Freiheitsschwindel ein Ende bereitete, nur möglich war, weil der Wille der Volksmenge zu religiöser Betätigung sich gegen den kalten Rationalismus auflehnte.
Es musste daher von den in solchen Dingen äusserst findigen bolschewistischen Gehirnen eine neue Methode ersonnen werden.
Diese Methode hiess: Innere Sprengung der Kirche. Es galt daher, innerhalb der Geistlichkeit der russischen Kirche, Elemente zu finden, die bereits in zaristischer Zeit Reformen angestrebt hatten, die unzufrieden und vor allem auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren und die glaubten, weil sie selbst nichts Rechtes leisteten und vielleicht nicht konnten, dass ihnen überall Unrecht geschähe. Trübe Elemente gibt es überall. Hier galt es den Hebel anzusetzen.
Ein Vorwand hierzu fand sich in dem bekannten Streit um die Kirchenschätze. Es wurde angeordnet, dass alle Kirchenschätze herausgegeben werden sollten unter der fadenscheinigen Begründung, hiermit die Hungerleidenden unterstützen zu wollen. Es begannen die Prozesse wegen Nichtherausgabe des Kirchenguts.
Wo die Requisitionen ohne vorherige Ankündigungen vorgenommen wurden, kamen sie ohne Schwierigkeiten zur Ausführung. Wo es aber der russischen Regierung auf Unschädlichmachung, vielleicht besonders tüchtiger Geistlicher ankam, wurde der Widerstand geradezu provoziert.
Der Patriarch, der sich aus durchaus verständlichen Gründen gegen dieses Dekret sträubte, ja sogar die Auslieferung der Kirchenschätze bei Strafe der Exkommunikation verbot, wurde selbst in dem bemerkenswerten Prozess in Petersburg im Frühjahr 1922, als Zeuge geladen.
Es kam indessen anders, als sich die russischen Machthaber gedacht hatten. Gegen die schroffe Behandlung des Kirchenfürsten erhob sich die grosse gläubige Masse des russischen Volkes und es kam selbst im Sitzungssaal zu erheblichen Tumulten, an denen sich, wie mir versichert wurde, auch Anhänger des Bolschewismus beteiligten.
Die russische Regierung sah ein, dass sie auf diesem Wege nur ihre eigene Macht schwächen würde. Es darf als ziemlich gewiss angenommen werden, dass 95% Russen im Herzen gegen die neue Regierung sind.
Nun tragen vorgeschobene Geistliche, selbst Bischöfe der oben geschilderten trüben Richtung auf den Plan. Sie erklärten, der Patriarch habe seine Rechte überschritten. Der Patriarch erhielt Hausarrest. Die eben erwähnten Geistlichen drangen in seine Wohnung ein und suchten ihn zur Abdankung zu bewegen. Trotzdem der Patriarch fest blieb, wurde dem Volke verkündet, der Patriarch habe abgedankt.
Es bildete sich auf ungesetzlichem Wege eine neue Kirchenleitung, die von vielen Geistlichen und Bischöfen auch anerkannt wurde. Besonders die Spitzen der russischen Kirche fielen ab.
Diese neue Bewegung nannte sich im Gegensatz zu der scheinbar abgestorbenen alten Kirch die lebendige Kirche (jiwaja zerkow [Živaja cerkov’]). Es wurden weitgehende Neu-Organisationen innerhalb der Kirche vorgenommen. Z.B. wurde gestattet, dass verwitwete Priester wieder heiraten dürfen, auch den Bischöfen wurde die Heirat gestattet. Diese brauchten auch nicht mehr wie bisher aus dem Mönchstand hervorgehen. Ferner wurde die alte slavonische Kirchensprache teilweise durch die russische ersetzt.
Die gewünschte Spaltung ist also tatsächlich eingetreten.
Es wäre der russischen Regierung wohl ein leichtes gewesen, weitere Reformen einzuführen, wenn die Tscheka d.h. die geheime Polizei solche mit drakonischer Strenge im Regierungsauftrag durchgeführt hätte.
Die klugen Sowjet-Leute scheinen indessen wiederum eingesehen zu haben, dass sie hiermit nichts rechtes erreichen würden, denn die überzeugende Kraft würde allen weilteren [weiteren] Reformen fehlen.
Infolgedessen ist eine neue Direktive gegeben, die jede weitere reformatorische Tätigkeit verbietet, es solle alles beim Alten bleiben.
Welche Beweggründe hierzu geführt haben, konnte ich nicht ermitteln. Professor Timascheff von der Universität Petersburg, der übrigens überzeugter Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche ist, an deren Wiederaufleben er fest glaubt, äusserte, dass auch die neue lebendige Kirche notwendig tot bleiben müsse, und dass die russische Regierung Erfolge von dem natürlichen Gesetz der Anpassung erhoffe. Es sei leider eine Tatsache, dass jeder, der lang mit Bolschewisten gelebt und sich mit ihnen eingelassen habe, selbst von Ideen angezogen wurde und meist gegen seinen anfänglichen Willen darin bliebe. Er sei dann den kommunistischen Ideen ausgeliefert und verloren.
Ich hatte Gelegenheit, mich von der Richtigkeit dieser Ansicht in einigen Fällen persönlich zu überzeugen. Bei den ständig im Lande mit Bolschewisten arbeitenden Deutschen fand ich bisweilen eine, nicht nur aus Klugheitsgründen hervorgegangene Anpassung an die bolschewistischen Ideen.
So steht in diesem Augenblick – Januar 1923 – der Kampf. Die Zersetzung hat begonnen. Das Volk aber ist unbefriedigt und der starke Andrang des Volkes zum Gottesdienst in den russischen Kirchen, den ich wiederholt beobachten konnte, zeigt, dass der tiefreligiöse Sinn des Volkes, Betätigung verlangt. Es ist erhebend in den gequälten Gesichtern der einfachen Leute das innere Erben sich widerspiegeln zu sehen, was bei der mangelnden Kraft der Wahrheit und der eigenartigen religiösen Psyche des russischen Volkes nicht ausschliesst, dass die gleichen Leute wenige Augenblicke später auf der Strasse ihre Schieber- und der Schachertätigkeit wieder aufnehmen.
Es erscheint mir die Ernte für die Missionierung trotz grosser Schwierigkeiten reif.
Von den dort tapfer aushaltenden deutschen Priestern werden die Jesuiten herbeigesehnt, wie aus den Aeusserungen einzelner Geistlicher – Anlage 1 – hervorgeht. Die Sendung einzelner Jesuiten dürfte Erfolg versprechen; diese müssten genau Kenntnis der russischen Sprache und der Riten der russischen Kirche besitzen und vielleicht erst im Stillen eine Zeit lang beobachten und sich einleben, ehe sie ihre Tätigkeit beginnen.
Für Sendung ganzer Missionsgesellschaften erscheint es noch zu früh. Auch würde eine grössere Gesellschaft nicht im Stillen wirken können, bald die nie ruhende Aufmerksamkeit der Regierung erregen und Schwierigkeiten schon bezüglich der Unterkunft haben. Moskau, das Regierungs- und Lebenszentrum Russlands, erscheint mir als der geeignete Ausgangspunkt.
Mein Gesamt-Eindruck über die allgemeine Lage der römisch-katholischen Geistlichen und sonstigen Verhältnisse in den deutschen Kolonien ist folgender:
Der Priesterstand muss unbedingt ergänzt werden. Die jetzt noch dort wohnenden Geistlichen sind mit allen Mitteln festzuhalten und sollten auch nicht unter dem Vorwand, im Ausland Sammlungen veranstalten zu wollen, Urlaub erhalten, denn die seelische Not der Katholiken ist in Russland eine noch viel grössere als die materielle.
Die Wintersaat steht im Schwarzen Meer-Gebiet, wie in den deutschen Wolgakolonien ausgezeichnet. Wenn die russische Regierung der Landbevölkerung nach Zahlung der notwendigen allgemeinen Naturalsteuer, die nächstjährige Ernte zur freien Verfügung lässt und ihr gestattet eine Reserve für weniger gute Erntejahre zurückzulegen, dann darf nach der Ernte 1923 tatsächlich die Hungersnot als erloschen angesehen werden. In diesem Winter werden, nach übereinstimmender Aussage der Geistlichen in den einzelnen Dörfern, der Ortsvorstände und der Bauern noch fast in jedem Dorf ganze Familien infolge der Hungersnot durch Unterernährung zugrunde gehen. Eine Rettung dieser Leute erscheint mir nicht möglich.
Es ist Tatsache, dass durch Mangel an Regen auf der russischen Steppe, die ein grösseres Areal als Deutschland umfasst und durchweg aus bestem Weizenboden besteht, mit einer gewissen Regelmässigkeit Missernten eintreten. Es ist kein Zufall und wohl durch solche an einzelnen Orten der Steppe fast regelmässig eintretenden Missernten bedingt, dass die weite pontische Steppe noch bis vor 150 Jahren reines Nomadengebiet war und erst dann durch zaristische Ukase besiedelt wurde. Der Bevölkerung sind deshalb solche Missernten, wie sie die letzten Jahre brachten, keine aussergewöhnlichen Ereignisse. Sie hat diesen schweren Zeiten aber früher stets durch aufgespeicherte Reserven zu begegnen gewusst. Solche Reserven zu sammeln war ihr durch die Kurzsichtigkeit der neuen russischen Regierung bisher unmöglich gemacht worden. Hier muss mit aller Willenskraft der Hebel angesetzt werden. […] In der Resolution, die die deutschen Kolonisten verfasst haben, sind diese Uebelstände unter Ziffer 4 in Anlage 2 angedeutet.
Manche Kolonisten äusserten sich: schickt uns lieber Schul- und Gebetbücher und Priester an Stelle von Nahrungsmitteln.
Jedenfalls dürfte die Unterbringung von baren Geldmitteln, die von geeigneter, durchaus zuverlässiger Seite in die richtigen Hände gelenkt würden, am zweckmässigsten sein, um der Not zu steuern. Zu kaufen ist schon heute in Russland alles.
Da die Einführung von religiösen Schriften jeder Art seit neuestem in Russland streng verboten ist, dürften grosse Schwierigkeiten zu überwinden sein, um solche zu ermöglichen.
Gegen die flüchtig gewordenen Geistlichen, sofern sie nicht durch Proskription gezwungen waren, ausser Landes zu gehen, herrscht Verstimmung.
Es wäre zu erwägen, ob denjenigen Priestern, die unter den so schwierigen Verhältnissen in ihren Sprengeln ausgehalten haben, nicht sowohl durch [den] in Berlin lebenden alten Bischof, wie insbesondere durch den Heiligen Vater, eine besonders warme Anerkennung zuteil werden könnte.
Sollte eine weitere Sammlung für Russland stattfinden, dürfte es sich empfehlen, einen Teil der Summe zur Deckung des geistigen und geistlichen Bedarfs unserer Glaubensgenossen für das Wolga- und das Schwarze Meer-Gebiet zu verwenden.
Schwierigkeiten dürfte nur die Uebermittlung bereiten.
Max Ebell
Major a. D.
Referent in der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes.
Delegierter Sr. Eminenz des Herrn Cardinal [Kardinal] Bertram von Breslau.
2 Anlagen.
Anlage 1.
Ansicht einzelner Römisch-Katholischer Geistlicher und anderer Personen über Missionierung, die allgemeine Lage und sonstige kirchliche Verhältnisse in Russland.
Ich gebe die Ansichten der einzelnen Geistlichen und anderer Personen nach meinen sofort nach den Besprechungen gemachten Aufzeichnungen wieder, ohne auf wortgetreue Wiedergabe Anspruch machen zu können.
Ich wähle die chronologische Reihenfolge der Besprechungen.
1. Pater Pflug, Hauptgeistlicher in Odessa.
12. Oktober 1922. Es macht sich innerhalb der russischen Kirche eine sehr bedeutende Bewegung – Spaltung – in letzter Zeit geltend.
Es hat sich eine sogenannte lebendige Kirche – jéwaja zerkow – gebildet. Diese wird von der russischen Regierung geduldet, weil sie alles duldet, was zur endgültigen Zertrümmerung der russischen Kirche führen könnte. Die neue Bewegung soll in Grossrussland dem Protestantismus und zwar der anglikanischen Kirche – Secta Evangelista – zuneigen.
In Charkow soll bereits ein höherer russischer Geistlicher zur römisch-katholischen Kirche zurückgekehrt sein.
In Grossrussland – Zentrum Moskau – täte geistliche Hilfe am ehesten Not.
In Kleinrussland – Ukraine – schiene es, als ob sich die Bewegung bisweilen auch der griechisch- katholischen Kirche zuneige, deren Riten von der orthodoxrussischen verschieden seien.
Die Sendung einzelner Jesuiten dürfte Erfolg versprechen, für ganze Missionierungsgesellschaften sei es wohl noch etwas früh. Nichts dürfe gewaltsam vorgenommen werden. Die alte Kirche müsse sich erst völlig zersetzen, dann auf ihren Trümmern neuer Aufbau.
Nicht ohne Wert dürfte auch Pater Pflugs Ansicht über die Verhältnisse innerhalb der römisch-katholischen Kirche sein. Viele Geistliche fehlten besonders in den deutsch-katholischen Wolga-Kolonien. Da nach russischem Gesetze niemand unter 18 Jahren in der Religion unterrichten werden dürfe, müsse der Mangel mit der Zeit noch grösser werden, da nach obigem Gesetz die Wiedereinführung der Knabenseminare vorerst unmöglich sei. Die Geistlichen unterrichteten meistens ohne Genehmigung im Pfarrhaus oder in der Kirche. (Ich hatte Gelegenheit mich des öfteren davon zu überzeugen z.B. in der Schwarzen Meer-Kolonie Landau bei Pater Reichert.)
Klerikal-Seminare könnten indessen gleich eingerichtet werden, da grundsätzlich dem nichts entgegenstände. Jede moralische Unterstützung sei erwünscht. An Dogmen der katholischen Kirche sei bisher noch nicht gerüttelt. Die deutsche Regierung möge doch Erlaubnis erwirken, dass Schulbücher gesandt werden könnten.
2. Pater Beilmann, Ortsgeistlicher in Josefstal, Deutsche Kolonie in der Nähe des Dniestr-Liman. 19. Oktober 1922.
Pater Beilmann war früher Professor und Religionslehrer am Gymnasium in Odessa. Er ist Typhus-Rekonvalescent, stammt aus der Kolonie Vollmer bei Saratow an der Wolga.
Als Missionspriester hält Beilmann die Jesuiten, für erspriesslich, ein Wirken im Sinne des heiligen Clemens Hofbauer. Äussere Kenntnis der russischen Riten und der russischen Sprache seien erwünscht. In Odessa hätten sich bereits orthodox-russische Katholiken dem Gottesdienst mit griechischen Ritus angeschlossen.
Innere Verhältnisse der römisch-katholischen Kirche: Priesterseminare seien geschlossen, Nachwuchs sei nicht vorhanden. Seminare müssen gepachtet werden. Mittel hierzu seien nicht vorhanden.
Auf meine Frage, ob Seminare gestattet seien, erwiderte Pater Beilmann: Im Dekret über Trennung von Kirche und Staat sei für den Unterricht auf die Benutzung geschlossener Räume hingewiesen.
3. Pater Michael Merklinger, Ortsgeistlicher in Nikolajew, den 22. Oktober 1922.
P. Merklinger hält Missionierung durch Jesuiten für zeitgemäss und erwünscht, meinte auch, gehört zu haben, dass ein Vertrag zwischen russischer Regierung und Heiligem Stuhl bestehe, nach denen den Orden freie Religionsübung gestattet sei.
4. Generalvikar Prälat Krüschinsky [Kruschinsky] in Karlsruhe. Beresan-Kolonie. 25. Oktober 1922.
Herr Prälat hält ebenfalls Missionierung durch einzelne Jesuiten für erspriesslich. Hindernisse seien weniger der orthodox-russische Ritus, auch kaum die Erlaubnis des niederen Klerus zu heiraten (Armenier!), sondern
- die tiefgewurzelte Verehrung der russischen Heiligen, die erst nach der Trennung von der römisch-katholischen Kirche ernannt seien. Es sei nicht sehr schwer, in der russischen Kirche ein Heiliger zu werden und Rom könne unmöglich diese etwas seltsame Gesellschaft anerkennen.
- die Ehescheidung, die bei der russischen Kirche ausserordentlich erleichtert sei. Es genüge halbjähriges Verlassen und die Schuld auf sich zu nehmen, um die Scheidung auszusprechen.
Die russische Regierung wolle die russische Kirche zunächst mit allen Mitteln unterdrücken, drücke daher bisher ein Auge zu bei den anderen Kirchen, die sie zur Zeit für weniger gefährlich hielte. Es dürfe indessen als gewiss aufgenommen werden, dass sich später nach russischem kommunistischem Rezept auch die Regierung gegen die Bekenner anderer Kirchen wenden würde. Besonders wohl gegen die katholische Kirche, da die sogenannte lebendige Kirche freieren Grundsätzen huldige und es vielleicht in der Intention der Regierung läge, diese Kirche zum Staatsinstrument auszubilden.
5. Dr. Lang, ehemaliger Lateinlehrer am deutschen Lehrerinstitut in Nikolajew. 29. Oktober 1922.
Der Herr darf nur noch deutsch lehren. Latein dürfe nicht mehr gelehrt werden, da diese Sprache zu konservativ sei und nicht mehr in die Zeit passe. Es bestände ferner die Eifersucht zwischen Polen und Deutsch-Katholiken.
6. Pater Reichert, Ortsgeistlicher in Landau-Beresan-Kolinie und Pater Greiner, ebendaselbst, 61 Jahre alt emeritiert. Oktober 1922.
Besonders Letzterer, der früher am Landauer Mädchengymnasium tätig war, hält Missionsgesellschaften für zu früh, indessen einzelne Priester, Jesuiten, die im stillen wirken könnten, für hochwillkommen. Er erwähnte auch die Steyler Patres in Taganrock [Taganrog] und die im Auftrage des Heiligen Vaters zur Zeit wahrscheinlich in Gupatoria in der Krim wirkenden Patres.
Bezüglich der römisch-katholischen Kirche erwähnten beide, dass die Kirchengebäude sämtlich Staatseigentum seien. Die Räume könnten indessen, wie es auch bereits in einzelnen Gemeinden z.B. Kleinliebenthal, geschehen sei, kontraktlich an Kirchenausschüsse, in den die Priester allerdings keine Stimme hätten und haben dürften, vergeben werden. Die Geistlichen könnten nur im stillen [Stillen] der Gemeinde als beratende Mitglieder zur Seite stehen. Der Priestermangel sei sehr gross. In einigen Orten seien überhaupt keine Priester trotz vorhandener katholischer, Kirchen.
7. Herr Linke, Vorsitzender des Vereins deutscher Kolonisten germanischer Abstammung. Evangelischer Gemeinde-Kirchenrat, Nikolajew. 1. November 1922.
Linke hat an seiner Wohnung mit zweifelhafter Berechtigung das deutsche Rote-Kreuz-Zeichen anbringen lassen, um anzudeuten, dass er mit demselben in irgend einer Beziehung stehe. Er war früher unter dem Direktor der kaiserlichen Werft in Nikolajew, Major Windscheid, der zur Zeit in Berlin im christlichen Hospiz wohnt, auf der Werft tätig. Linke gilt als Spekulant und ist mit grosser Vorsicht zu behandeln.
Herr Linke äusserte folgende bemerkenswerte Ansicht:
Der deutsch-russische Vertrag enthielte die Bestimmung, dass Reichsdeutsche den russischen Untertanen gleichgestellt sein sollten. Dies sei eine Bestimmung, die in ihrer Bedeutung und ihrem Schaden für die Reichsdeutschen nicht genügend gewürdigt sei. Da nämlich aller russischer Besitz Staatseigentum sei, dürften demgemäss auch Reichsdeutsche in Russland kein Eigentum besitzen. Infolgedessen sei auch der Besitz der Reichsdeutschen enteignet und dieselben aus ihrem Eigentum herausgeworfen. Es müsste daher folgerichtig auch den Russsen, die in Deutschland wohnten, ihr Eigentum in Deutschland beschlagnahmt werden. Hinweis der Deutschen Regierung auf diesen Punkt sei erwünscht.
8. Am 3. November 1922 fand in Odessa unter dem Vorsitz des Bevollmächtigten der Ukraine für die Hilfsorganisation, Herrn Waleskaln und seinem bereits ernannten Nachfolger eine Versammlung betreffs Verteilung der Gaben der Kinderhilfe statt. Ich hatte bereits früher den Leiter der gesamten Hilfsorganisationen für Grossrussland und Ukraine, Dr. Batschkewitsch aus Charkow, kennen gelernt, der, wie alle russischen Beamten, sehr zuvorkommend zu mir war, mir bei Gelegenheit Platz in seinem Salonwagen anbot und um Übersendung deutscher medizinischer Zeitschriften bat. In dieser Verhandlung trat die russische Regierung mit dem Ersuchen auf, dass in Zukunft die Küchen in den Städten, die so Gutes gewirkt hätten, aufhören sollten. Alle Lebensmittel für die Kinder sollten künftig an die russische Regierung zur Selbstverteilung an hungernde, von der Strasse aufgelesene Kinder ausgehändigt werden. Die russische Regierung beabsichtige diese Kinder in Internate unterzubringen. Auf die Frage des Herrn Hahn, Bevollmächtigter des Deutschen Roten Kreuzes in Odessa und des Herrn Ramseier von der Internationale Kinderhilfe in Genf – Katholik, ob denn auch in den Interanten bekannt gemacht würde, woher die Gaben stammten, wurden ausweichen Antworten erteilt.
Es geht hieraus das Bestreben der russischen Regierung hervor, für ihre kommunistischen Interessen zu ernten, wo sie nichts gesät haben. Bei diesen Verhandlungen waren fernen anwesend: Der Vorsitzende des Ukrainischen Roten Kreuzes Danischewsky, Kommunist, der trotzdem dafür stimmte, die Verteilung in der bisherigen Hand zu behalten, ferner waren anwesend der Israelit Dr. Adler, Delegierter des Comité executif de la Conference Universelle Juive de secours. Alle Spitzenvorstände waren gegen die Vorschläge d.h. gegen die Regierung.
Die Regierung schlug bei dieser Sitzung auch ferner vor: Die Bauern sollten mit Getreide auf Credit unterstützt werden, Arbeitslose, die in Russland sehr zahlreich und unverschuldet im Gegensatz zu Deutschland, vorhanden sind, nur dann, wenn sie sich in die Genossenschaft für staatliche Arbeiter einschreiben liessen.
Dies ist sehr bedenklich, ausserdem werden sie sehr schlecht bezahlt und müssen sich, gleichgültig in welchem Beruf sie vorher tätig waren, verpflichten, sich zu jeder beliebigen Arbeit an jeden beliebigen Ort verschicken zu lassen.
Es erhellt aus allem diesem, wie zielbewusst die russische Regierung alle konfessionellen Bestrebungen und Hilfeleistungen in ihr Fahrtwasser zu leiten sucht.
9. Dekan Schubert, Ortsgeistlicher in Simpheropol, Hauptstadt der Krim, 11. November 1922. Erbärmliche Wohnung.
Dekan Schubert muss seit Wochen täglich mit zahlreichen anderen russischen Geistlichen zum Verhör in die Tscheka. Hier findet Prozess gegen die Geistlichkeit wegen nicht Herausgabe von Kirchengerät oder Unterschlagung bei der befohlenen Abgabe, statt.
Dekan Schubert, den ich nicht zu Hause traf, suchte mich Abends in meiner Wohnung im deutschen Hospital auf und erzählte von seinem Verhör. Er meinte, er werde sichtlich bevorzugter behandelt, als die russischen Geistlichen, die zum Teil ohne jede theologische Vorbildung seien. Der Staatsanwalt sei ein etwa 22 jähriger Mensch, die drei Richter Arbeiter. Trotzdem seien auch ihm Fragen über seinen Glauben, weshalb er katholisch sei, wer seine Ausbildung bezahlt habe und ob er General Wrangel gekannt habe, vorgelegt.
Es sind dies erfahrungsgemäss Fallen, die nur gestellt werden, um die Angeklagten zu verwirren und in Widersprüche zu verstricken, auf Grund deren dann eine Verurteilung erfolgen kann.
Der Ausgang des wohl noch bis Weihnachten dauernde Prozesses sei nach Dekan Schuberts Ansicht durchaus ungewiss. Er meinte, selbst günstigsten Falles sei seines Bleibens nicht in Simpheropol. Er bäte um die Versetzung nach Kischinew in Bessarabien (der Bischof von Tiraspol, Excellenz Kessler hält solche Versetzung zur Zeit für unmöglich, zumal Kischinew in Rumänien jetzt liege).
Dekan Schubert erwähnte noch, dass er, solange er unter Anklage stände, keine kirchliche Funktion ausüben dürfe, ausser Vornahme von Beerdigungen.
Betreffs Missionshilfe meinte er: Solche kämen nie zu früh. Nach meiner Rückkehr aus Russland fand ich folgende Zeitungsnotiz in einer grösseren deutschen Zeitung:
Moskau, 20. Dezember 1922. In der Krim ist der Prozess gegen 73 Priester beendigt worden, die angeklagt waren, Widerstand gegen die Fortnahme der Kirchenschätze geleistet zu haben. 36 der Angeklagten wurden verurteilt, darunter der Bischof Nikodim zu 8 Jahren Freiheitsentziehung und strenger Isolierung.
10. Lehrer Alexander Maier in Saratow an der Wolga, ein sehr vertrauenswürdiger Mann, Bruder des Pater Nikolaus Maier, des Begleiters des geflüchteten Bischofs von Tiraspol, Exzellenz Kessler, 17. November 1922.
Er berichtet in Gegenwart des Dekan Desch, der dies bestätitgt [bestätigt]: 1921 sei Frau M.W. aus Warschau als Vertreterin des Heiligen Vaters in Saratow erschienen, sie habe im Auftrage des Papstes Mehl überbracht, diese Spende indessen den internationalen Vertretern der Auslandshilfe in Saratow, sowie der russischen Regierung übergeben. Infolgedessen seien diese Gaben ohne Unterschied der Konfession hauptsächlich an Juden abgegeben worden. Die Dame habe persönlich 500 Pud (1 Pud = 35 deutsche Pfund) an Polen und Russen, ihre Bekannten, verteilt. Deutsche Katholiken hätten von dieser Spende nichts erhalten, nur Dekan Desch 3 Pud Mehl persönlich.
Über die Persönlichkeit des Herrn Dekan Desch, der von seinem hochwürdigsten Herrn Bischof, Excellenz Kessler, z. Zt. in Berlin, nicht zum Dekan ernannt wurde, bitte ich von diesem nähere Erkundigung erforderlichenfalls einziehen zu wollen.
Die Verteilung von Spenden an Katholiken sei vom 1. Januar 1923 ab kaum mehr möglich, da am 15. Oktober 1922 Vertrag wegen Hungerhilfe mit russischer Regierung abgelaufen, indessen erst zum l. Januar 1923 gekündigt sei. Dekan Desch hält Sendung von barem Geld für besser.
Ich bon [bin] gleicher Meinung wie Dekan Desch, allerdings aus anderen Gründen. Der junge Doktor Fischer, Bevollmächtigter des Roten Kreuzes in Saratow, Neffe von Hugo Stinnes, ist zum 1.1.23 abberufen und wird Assistenzarzt in Hamburg (Eppendorfer Krankenhaus). Er wird vertreten soweit die Deutsche Rote-Kreuz-Russenhilfe überhaupt noch weiter besteht, von Friedrich Lorisch, einem deutschen Kolonisten, der jedenfalls nicht selbständig arbeiten kann. Protestant.
Der Pomgol (Comité für gegenwärtige Hilfe, rein russische Behörde, die in Petrowski am jenseitigen Wolgaufer ihren Sitz hat) gestattet nicht mehr Verpflegung durch eigene Küchen, da angeblich die Unkosten (Heizung und Gestellung der Arbeiter) zu gross seien. Er will alles in eigenen Internaten selbst verteilen. Es fällt auf, wie gut die Moskauer Zentral-Regierung arbeitet, da hier genau dieselben Bestrebungen an der Wolga im Gange sind, wie in der Ukraine in Odessa […] (unter Ziffer 8 berichtet). Nun ist hier die Begründung eine andere.
Dekan Desch schlägt vor, bei weiterer Hilfe Rohprodukte in Saratow kaufen zu lassen. Dollar und Pfunde seien stets gangbar.
Nach Aussage Deschs seien die Geistlichen in grosser Not. Kein Wolgageistlicher im ganzen Gebiet habe ausser ihm seine eigene Wohnung beibehalten können. Es herrsche grosser Priestermangel. Theologische Kurse könnten abgehalten werden. Es fehlen Geistliche in:
1) Marienburg (nächster Geistlicher 40 Werft in Urbach)
2) Rohleder (Pater Johannes Schneider der Jüngere ist suspendiert)
3) Herzog (Priester Beratz erschossen)
4) Brabande (Pfarrer Kappes in Deutschland)
5) Liebenthal (frei wegen Priestermangel)
6) Husaren ( “ “ “ )
Betreffs Missionierung hält Desch die Zeit jetzt für sehr geeignet, da grosse Zersplitterung der russischen Kirche an der Wolga bestehe und Auflösung in Sekten begonnen habe. Ich selbst sah russischen Geistlichen mit Sach auf dem Rücken in Basar handeln gehen. Es seien sogleich unabhängig von der Ersetzung des Priestermangels in den deutschen Kolonien, einzelne Jesuiten zu senden.
Ein Orthodox-russischer Geistlicher in Saratow – Anisimow – ist zur römisch-katholischen Kirche zurückgetreten. Er ist ohne theologische Vorbildung. Vom Bischof Zepljak [Cepliak] in Petersburg zum katholischen Priester geweiht. Ich hörte selbst stille Messe von ihm. (Ohne Chorknaben und Klingelzeichen)
11. Pater Adamus Puczkar Chmielewczki,
Ortsgeistlicher in Minsk. Weissrussland. Er ist Pole, war früher in Irkutsch als Geistlicher tätig. Er hat nach seiner Angabe etwa 50 000 Seelen zu pastorieren. Am 29. November 1922.
In Minsk besteht ein fühlbarer Unterschied gegenüber den bisher genannten Pfarreien im Schwarzen Meer- und Wolgagebiet. Hier herrscht reges katholisches Leben, das man sofort am Pfarrhausverkehr merkt. Der Priestermangel ist in der Diözese sehr gross. Der Bischof der Diözese residiert in Novo-Grodek, das schon zu Polen gehört. Das Priesterseminar steht indessen auch in Minsk leer. P. Chmielewczki meinte, er könne sich nur der Ansicht des Erzbischofs Zepljak [Cepliak] in Petersburg anschliessen, dass mit der Missionierung durch einzelne Jesuiten sogleich begonnen werden könne. Der Pater sieht die Schuld der kirchlichen Bedrückung in der Herrschaft der Juden in Russland.